Wissenschaft als Dichtung

Robert Matthias Erdbeers umfangreiche Studie „Die Signatur des Kosmos“ untersucht die Poetik der Kosmologien und ihren Einfluss auf die „Esoterische Moderne“

Von Peter HaischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peter Haischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine zunehmende Spezialisierung und der immense Erkenntniszuwachs der Naturwissenschaften während des 18. und 19. Jahrhunderts weckten bald das Bedürfnis nach einer Gesamtschau des neuen Wissens. Auch wenn die Illusion einer solchen ernsthaften Einheitsvision aus Philosophie und Wissen längst verabschiedet ist, bleibt derartige Ganzheitlichkeit bis heute ein Faszinosum, wie das gegenwärtige Interesse an Universalgenies wie Leonardo da Vinci, Johann Wolfgang Goethe oder Alexander von Humboldt belegt. Eindrucksvoll bestätigte dies Hans Magnus Enzensbergers Coup, einer nahezu unlesbaren und längst veralteten Kosmologie zu umfassender medialer Präsenz zu verhelfen und als schweren Folioband unter tausende Weihnachtsbäume zu zaubern – Humboldts „Kosmos“.

Dieser und anderen Kosmologien des 19. und frühen 20. Jahrhunderts widmet sich nun eine umfängliche Studie Robert Matthias Erdbeers. Er versucht, ihren Einfluss auf die Entstehung der „Esoterischen Moderne“ darzustellen. Dass darunter nicht das Sammelsurium zeitgenössischer Esoteriklehren von Astralleib bis Zen zu verstehen ist, sondern mit einem festumrissenen Begriff operiert werden soll, zeigt schon die Großschreibung des Adjektivs an. Kennzeichen der Esoterischen Moderne ist laut Erdbeer die Offenlegung und Popularisierung ihrer Einsichten: „Im Gegensatz zur Tradition des gnostischen, hermetischen und kabbalistischen Dispositivs verbirgt die Esoterik der Moderne ihr Arkanum nicht. […] Im Selbstverständnis der modernen Esoterik wird […] das Komplexe einfach, das Arkane populär.“ Erdbeers Studie legt damit die Umkehrung des traditionellen Esoterikverständnisses offen. Die an sich frei zugänglichen Wissenschaften werden infolge ihrer Spezialisierung undurchschaubar und blenden zunehmend allgemein interessierende Fragestellungen aus. Die zuvor hermetische Esoterik besetzt die Lücke. Kosmologie, so die These des Autors, fungiere daher auch als latente Wissenschaftskritik. Herausragendes Kennzeichen der Esoterischen Moderne sei die „Faktualisierung literarischer bei gleichzeitiger Fiktionalisierung wissenschaftlicher Konzepte“.

Insofern ist die rein literaturwissenschaftliche Betrachtung des Phänomens nur konsequent. Für Erdbeer liegt der Schlüssel zum Verständnis der skizzierten Entwicklung in der Analyse kosmologischer Darstellungen und der ihnen zugrundeliegenden Poetik. In seinem großangelegten Entwurf einer textuellen Stammreihe, anhand derer die Schritte nachvollzogen werden, welche „die Naturphilosophie der Vormoderne in die Esoterik der Moderne transformieren“, behandelt der Verfasser ausführlich die kosmologischen Schriften Humboldts, Carl Gustav Carus’, Gustav Theodor Fechners, Ernst Haeckels und Hanns Hörbigers. Der Schwerpunkt seiner Analysen liegt auf den Verfahren und Strategien, mit denen die Autoren holistischer Entwürfe das Unmögliche möglich machen wollen: die im Wissenschaftsbetrieb fragmentierte und um wesentliche Fragen kupierte mikrologische Naturforschung wieder zu einem ganzheitlichen Bild zusammenzufügen. Dementsprechend widmet Erdbeer vor allem den Darstellungsweisen ausführliche Analysen und nimmt poetologische, mediale und materielle Kommunikationsstrategien der behandelten Kosmologien in den Blick.

Ausgangspunkt der Untersuchung ist Humboldts gigantomanisches „Kosmos“-Projekt, aus dessen Aporien die nachfolgenden Kosmologen abweichende Bewältigungsstrategien entwickeln werden. Humboldts ursprüngliche, am Klassizismus orientierte harmonisierende Deskriptionspoetik scheitert an der Unendlichkeit und an der sich vollständiger Synthetisierung entziehenden Qualität des Gegenstandes. Angesichts der erkennbaren Fragmentarität öffne sich Humboldts Diktion daher dem ‚expressionspoetischen‘ Diskurs, der Wissenslücken mit darstellerischer Emphase kompensiere. Zudem trete im „Kosmos“ die Abbildung wissenschaftlicher Kommunikation und der dadurch darstellbare Erkenntnisprozess an die Stelle der ursprünglich intendierten statischen Synthese. Der „Kosmos“ werde so zum diskurs-geschichtlichen Archiv.

Im Unterschied zu Humboldt – so Erdbeers These – akzeptiert Carus in seinen „Zwölf Briefen über das Erdleben“ (1841) von vornherein die Grenze von synthetisierendem Dilettantismus und differenzierender Wissenschaft, macht sie sich aber zu Nutze, indem er die kosmologische Didaktik als freundschaftliche Aufklärung durch den Wissenden inszeniert. Die von den Wissenschaften erarbeitete, präzise Erkenntnis bleibt im Hintergrund verfügbar und bildet die Vertrauensbasis, auf der sich Ganzheit im freundschaftlich-vertrauten Diskurs formieren kann. Das Esoterische bei Carus entspringt seiner skeptischen Haltung gegenüber dem naturwissenschaftlichen Materialismus, der sich seiner Ergebnisse selten gewiss sein könne.

Dagegen lasse Fechner in seinem „Zend-Avesta“ (1851) die bei Carus präfigurierte Inspirationspoetik an die Stelle der gescheiterten Humboldt’schen Deskriptionspoetik treten. Fechner greift hierzu verstärkt auf homiletische Textmuster, aber auch die mehrdeutigen Schreibweisen von Parodie und Satire zurück, wie sich an der ausführlichen Besprechung der Wissenschaftssatire „Vergleichenden Anatomie der Engel“ (1825) zeigen lässt. Das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher Empirie und Ganzheitsvision wird über Analogie und Metaphorik hergestellt, wobei auch die nicht-satirische Darstellung im „Zend-Avesta“ immer wieder gebrochen wird. Fechners Verunklarungen naturwissenschaftlicher Phänomenologie verhelfen dabei zur Einsicht in die grundsätzlich aporetische Struktur der Wissenschaft. Diesem deskriptiv verankerten Skeptizismus wirkt vor allem die starke Rhetorisierung des Textes entgegen, die dem zeitgenössischen Predigtstil verpflichtet ist und die Leserschaft auf die „liturgisch[e] Gemeinschaft einer neuen Religion“ einschwören soll.

Auf Humboldt und Carus aufbauend, verschärfe Haeckel in seinen „Welträthseln“ (1899) dann die textinterne Kommunikationssimulation zur Polemik. Außerdem übernimmt er die religiöse Emphase Fechners und verstärkt sie, wenn wissenschaftliche Kompetenz nicht mehr übersetzt, sondern gerade als Unwissen beim Leser vorausgesetzt wird. Die Demonstration von Wissenschaftlichkeit steht als vom Laien kaum überprüfbarer Kompetenzbeweis erratisch im Textblock. Erdbeer kennzeichnet Haeckels Verfahren treffend als „inszenierte Unverständlichkeit“. So wird der mit wissenschaftlicher Terminologie angereicherte Text zur „Offenbarung“ umgeformt, „die, obgleich als Wissenschaft betrieben, die Wissenschaft beerben will“.

Mehr noch als bei Haeckel dient in Hörbigers Glazialkosmologie überbordende Simulation von Wissenschaftlichkeit zu ihrer Beglaubigung, wie Erdbeer abschließend zeigt. Die Schriften der Welteis-Anhänger bieten „erstaunlich ausgearbeitete, hochkomplexe Arrangements aus Text- und Bildverfahren, die im Bildgebungsdiskurs der populären Kosmik ohne Beispiel sind“. Schwer zu durchblickende Diagramme und Schemata sichern die im wahrsten Sinne allumfassenden Ansprüche der Welt- und Kulturdeutung ab und unterfüttern den Erklärungsabsolutismus Hörbigers und seiner Anhänger: „Die doppelte Struktur aus popularisierter Form und esoterischer Exaktheit scheint […] zu garantieren: hinter jeder plastischen und textuellen Welteisdichtung […] steht ein strenges […] Schema, das die Wahrheit des Phantastischen verbürgt.“ Hörbigers Kosmologie bildet den Abschluss der in Erdbeers Studie vorgestellten „Naturalisierung der Naturphilosophie“. Die Grenze zwischen Wissen und Glauben werde aufgelöst, das naturwissenschaftliche Weltbild verschmelze mit seiner implantierten Kulturtheorie. Somit habe Hörbigers Welteislehre als das eigentliche „Gründungsmonument der Esoterischen Moderne“ zu gelten.

Indem Erdbeer die kosmologischen Darstellungsmodi ins Zentrum seiner Analyse stellt, beantwortet er die von der Forschung bereits seit längerem gestellte und nie in dieser Ausführlichkeit behandelte Frage nach der Poesis der Kosmologie auf hohem Reflexionsniveau. Der Autor integriert in seine Darstellung ausführliche Erörterungen system- und diskurstheoretischer Konsequenzen kosmologischer Deskription, die in immer neuen Anläufen differenziert und vielfältig durchgespielt werden. Allerdings führt die ebenso detailorientierte wie theorielastige Analyse zu einem chef d’oeuvre inconnu wie in Balzacs gleichnamiger Erzäglung: Ohne minutiöse Kenntnis der beschriebenen Phänomene und ihrer hochdifferenzierten theoretischen Koordinaten dürfte kaum klar werden, was denn genau dargestellt sei. Bei den besprochenen Werken verleihen ausführliche Stilanalysen dem Detail Tiefenschärfe, allerdings bestehen Zweifel hinsichtlich der anknüpfenden theoretischen Abstraktionen: Wie kann das so vergrößerte und herauspräparierte Detail vor dem Hintergrund der besprochenen Textmassive bestehen?

Die Einzelbetrachtungen wirken deshalb oft überdeterminiert. So wird ein elegantes, aber eher beiläufiges Paradoxon Humboldts – „In der unteren Juraschicht […] ist die Erhaltung des Dintenbeutels der Sepia so […] vollkommen, daß dieselbe Materie, welche vor […] Jahren dem Thiere hat dienen können, um sich vor seinen Feinden zu verbergen, noch die Tinte hergegeben hat, mit der sein Bild entworfen wird“ – aus dem ursprünglichen Kontext gelöst und zum metapoetischen Axiom umfunktioniert: Die „Materialität des Gegenstandes“ werde bei Humboldt „zum deskriptionspoetischen Entwurf“ genutzt. Eher suggestiv als zwingend verschlagwortet später der Autor ein Darstellungsmoment des Biologen Haeckel zur „semantischen Osmose an der ‚Zelle‘ Text“.

Dies erregt denn Misstrauen. Der Verfasser bewegt sich zwar souverän zwischen Ästhetikgeschichte und zeitgenössischen Theorien und beweist dabei seine erstaunlich breite (und oft sehr genaue) Textkenntnis. In der diskurstheoretischen Moderne Erdbeer’scher Prägung scheint man sich bei der intertextuellen Suche nach Referenzen allerdings lieber mit dem Fahrstuhl durch das Archiv zu bewegen, als mühsam die Treppe zu nehmen. So reichert er die oben zitierte Bemerkung Humboldts etwas unvermittelt mit Lesefrüchten aus Werken Heinrich von Kleists und Herman Melvilles an. Selbst die vielfältigen und gar nicht unwahrscheinlichen Bezüge zu zeitgenössischen Referenztexten werden im Zusammenhang der Darstellung nicht so exakt rekonstruiert wie nötig, um die herausgearbeiteten Parallelen abzusichern. Hier wäre der vielleicht etwas antiquiert scheinende positivistische Begründungseifer angebracht gewesen, um die Kontextualisierungen plausibler zu machen, zumal der Autor an anderen Stellen durchaus exakte intertextuelle Nachweise zu erbringen weiß.

Überhaupt beherrscht der Autor virtuos das Spiel mit Assoziationen, die den Leser aber nicht unbedingt zu klaren Einsichten verhelfen. Das zeigt schon die Wahl des Titels, der den Leser auf mögliche Bezüge moderner Kosmologien zur frühneuzeitlichen Signaturenlehre hinzuweisen scheint, was aber die Studie an keiner Stelle ernstzunehmend einlöst. Ähnlich freizügig kombiniert der Autor auch im Text fernliegende geistesgeschichtliche Entwürfe. Ein Beispiel: „Die Welteislehre wird zur technisch renovierten Physikotheologie. Durch seinen homogenisierenden Charakter […] wird es [das neue Weltbild, P.H.] selbst zum Kultus, der kulturstiftende Qualität erhält. In diesem Sinne arbeitet auch die Glazialkosmologie im Freudschen Paradigma einer Archäologie des Unbewußten, die aus ihrem Unbehagen an der gegenwärtigen Kultur den Auftrag einer aufgeklärten Akkulturation gewinnt.“ Mit der Physikotheologie ruft Erdbeer einen historisch exakt verorteten Weltdeutungsentwurf auf, ohne den Bezug zu Hörbiger zu konkretisieren, dessen Weltbild dafür rasch mit Freuds Kulturtheorie kurzgeschlossen wird. Hier offenbart sich eine Schwäche des Erdbeer’schen Allusionismus.

Das Konzept der Studie zielt auf die Integration zentraler aktueller Theorieinteressen wie Materialität, Medialität oder das Bild-Zeichen-Verhältnis. Die Schwierigkeit, den Ausführungen des Autors gedanklich zu folgen, ergibt sich dabei oft aus der unaufgelösten Spannung zwischen systematisierendem Begriffsgerüst und diachron angelegter Darstellung. Seine Erkenntnisintention bleibt weitgehend theorieimmanent und ist daher trotz des Versuchs einer Historisierung schwer greifbar, weil er seine Ergebnisse am untersuchten Objekt weder als auktorial intendierte noch als geistesgeschichtlich signifikante Schreibstrategie ausweisen kann. Dies spiegelt auch der Stil der Studie wieder. Erdbeers Sprache ist terminologisch überfrachtet und hochkontextualisiert, ohne den Theoriekontext jeweils immer exakt zu bestimmen. Da hilft auch ein umfangreiches Begriffsregister wenig, obwohl es das Bemühen des Autors um Transparenz anzeigt. An vielen Stellen im Text wird aber deutlich, dass der Rückgriff auf Fremd- und Fachsprache mehr im Dienst stilistischer Variation als heuristischer Präzision steht. Dekor bleibt auch die großzügige Ausstattung des Bandes mit Bildbeigaben, erscheinen diese angesichts der knappen und oft beliebig wirkenden Zuordnungen der Illustrationen zum Text insgesamt wenig erhellend und daher oft verzichtbar.

Wenn Wissenschaft Poiesis ist, eine Fiktion aus Fakten, dann wirkt Erdbeers Studie angesichts seines Themas auf eigentümliche Weise autoreferentiell. Indem er signifikante Werke aus dem ungeheuren Textarchiv kosmologischen Schreibens aushebt, montiert und mit einer Vielzahl poetischer und poetologischer Entwürfe neu arrangiert, konstruiert er aus kontingenter Materie selbst ein folgerichtiges Universum mit eigener Kosmogenese.

So ließe sich eine Aussage zu Haeckels Kosmologie auch auf seine Studie anwenden, in der das „diskursgeschichtlich[e] Ergebnis einer imitatio poeticae, die ihrerseits, als imitatio scientiae, für die poetisch-esoterischen Diskurszusammenhänge der Jahrhundertwende und die Selbstbegründung der modernen Parawissenschaften stilbildend geworden ist“. Hinter Erdbeers doppelter Skepsis gegenüber der kosmologischen und szientifischen Wissensgenese steht ein fragwürdiges Wissenskonzept, das Brüche inszeniert, um die entstandenen Widersprüche dann im historischen Narrativ aufzuheben. Resultat ist das Modell einer hochkomplexen, aber hybriden, sowohl in ihrer Intentionalität als auch diskurstheoretischen Validität bezweifelbaren „Epistemischen Poetik“.

Titelbild

Robert M. Erdbeer: Die Signatur des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der Esoterischen Moderne.
Max Niemeyer Verlag, Tübingen 2010.
766 Seiten, 109,95 EUR.
ISBN-13: 9783484181908

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