Hautfarben

Alissa Walsers Erzählung „Immer ich“ zerfällt in neun einzelne Geschichten, die unterm Strich aber doch ein Ganzes ergeben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Alissa Walsers Erzählung „Immer ich“ besteht aus neun einzelnen Geschichten. Zu einem Ganzen, das die Genrebezeichnung „Erzählung“ (im Singular) rechtfertigt, macht den Text die Tatsache, dass in seinen einzelnen Teilen immer wieder dieselben Figuren auftauchen – mal fungieren sie als Ich-Erzählerinnen, dann wieder erleben wir sie gespiegelt in den Augen anderer. Die Methode ist nicht neu – Daniel Kehlmann („Ruhm“, 2009) oder Sibylle Berg („Die Fahrt“, 2007) haben sie in letzter Zeit auch praktiziert. Offensichtlich eignet sie sich dazu, einer Welt, deren Partikel die Tendenz haben, auseinanderzudriften und sich in jeder Sekunde, wie in einem Kaleidoskop, das geschüttelt wird, auf neue Weise miteinander zu verbinden, eine Art Korsett anzulegen. Um sie damit literarisch besser – oder überhaupt erst – in den Griff zu bekommen.

Die zentrale fünfte Geschichte des Bändchens präsentiert ein schönes Bild dafür, wie schwer es ist, unter all den flirrenden Oberflächen, wie sie uns täglich begegnen, auf festen Grund zu stoßen. Da steht die Protagonistin anlässlich einer Vernissage inmitten einer Frankfurter Galerie. Die kleine Farbexplosion, die in ihrem geschulten Auge zündet, verdankt sich dem Buffet. Dass sie angesichts von Garnelenhügeln und Lachskanapees das Meeresrauschen vermisst, wird bald wettgemacht durch einen Mann, der wie ein Fels die Nahrungsberge überragt. „Gradlinig wie Bauhausarchitektur, alt und jung zugleich“, scheint er das darzustellen, was sich nur selten findet hinter all den Masken, die Menschen heute zwischen sich und Ihresgleichen schieben: Solidität, Erfolg, ja Perfektion. Während die Ich-Erzählerin die Visitenkarte des offensichtlich mit Finanzangelegenheiten Beschäftigten in ihre hintere Hosentasche – ihr „Arsch-Büro“ – schiebt, bewundert sie die imposante Tasche, die jener Victor mit sich herumschleppt wie einen Generalstabstisch. Später erhält sie Gelegenheit, in sie hineinzusehen. Sie findet in der Tasche eine Tasche, in die erneut eine Tasche eingesperrt ist, und so fort.

Hüllen, die immer wieder Hüllen enthalten, aber nirgendwo auch nur der Schimmer eines Inhalts, einer Substanz. Was Wunder, dass es Walsers Heldin im Dämmerlicht der Bar, in der man sich zu später Stunde wiederbegegnet, plötzlich so scheinen will, als säße dem Mann ein langsam verblassendes Chamäleon auf der Schulter. Zum Traumpartner eignet er sich von da an nicht mehr. Später taucht er noch ein-, zweimal im Umkreis anderer Personen auf, für die er aber genauso enttäuschend ist.

Bindungen zwischen Männern und Frauen: Bei Alissa Walser – und das nicht nur in dieser Erzählung, sondern auch bereits in ihren früheren Texten – sind sie immer eine äußerst fragile Sache. Meist redet, lebt, fühlt und denkt man an seinem Gegenüber vorbei. Laviert zwischen Sehnsüchten nach dem ganz großen Gefühl und der Angst, darüber die lieb gewordene eigene Freiheit einzubüßen. Wagt sich ein wenig heraus aus seinem Panzer und wird dafür mit Missverstehen oder Schlimmerem bestraft. Und doch versuchen Walsers Figuren, ob sie nun Nina oder Mona oder Debbie heißen, immer wieder, existenzielle Klüfte zu überwinden, sind auf der Suche nach dem Anderen, dem bleibenden Gefühl, der dauernden Geschichte: „Manchmal ist man zusammen und froh… Und bleibt. Dann geht man. Kommt wieder. Haut ab.“

Wer sich ein bisschen mit der Biografie der Autorin auskennt, wird in den erzählten Orten New York und Frankfurt Lebensstationen der Künstlerin und Schriftstellerin Alissa Walser wiedererkennen. In den USA hat sie in den 1980er-Jahren Malerei studiert, die Main-Metropole ist ihr heutiger Lebensmittelpunkt. Hinter „Immer ich“ deshalb gleich ein autobiografisches Episodenbüchlein zu vermuten, greift dennoch zu kurz. Denn Walser geht es offensichtlich um die Skizzierung eines Zeitgefühls, das sie mit vielen anderen teilt. Wenn „Gelb, Rot, Blau, Weiß“ die Farbbestandteile sind, die Maler benötigen, um die menschliche Haut darzustellen, dann mischen die einzelnen Texte des Bändchens diese vier Grundkomponenten auf stets neue Weise. Dabei entstehen Varianten von Individualität, die allesamt auf ein bestimmtes Grundmuster zurückzuführen sind – was auch dem Titel, „Immer ich“, eine erweiterte Bedeutung verleiht.

Auf seine Kosten kommt übrigens auch der Leser, der mit Bewunderung im vergangenen Jahr registrierte, wie humorvoll, intensiv und hintergründig sich eine Schriftstellerin, deren herausragendes Kennzeichen bisher ihr Verhaftetsein an die Gegenwart war, die Historie in ihr Schreiben hineinholte. Was der Roman „Am Anfang war die Nacht Musik“ ins 18. Jahrhundert verlegte, lässt das Kapitel „In einem anderen Leben“ nun in der Zeit des Impressionismus stattfinden. Walser erzählt darin die Geschichte der Berthe Morisot (1841-1895), der es gelang, mit ihren Gemälden regelmäßig in die berühmten und Ruhm versprechenden „Salons de Paris“ aufgenommen zu werden. Natürlich darf auch Berthe als Ich-Erzählerin auftreten und ihre Zerrissenheit zwischen der Sehnsucht nach einem bürgerlichen Leben einerseits und der exzentrischen Existenz einer Malerin auf der anderen Seite bekunden. Sie ist darin eine Vorläuferin all jener modernen Frauen, die den Lesern in den anderen acht Teilen von „Immer ich“ begegnen. Genauso rätselhaft, genauso zerrissen, genauso unentschieden. Und vielleicht hat diese kleine Geschichte sogar das Potenzial zu einem großen Roman. Den könnte dann natürlich wieder nur Walser schreiben.

Titelbild

Alissa Walser: Immer ich. Erzählung.
Piper Verlag, München 2011.
160 Seiten, 16,95 EUR.
ISBN-13: 9783492054607

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