Zivilisationsverweigerer

Daniel Woodrells beindruckender Roman „Winters Knochen“ handelt von einer merkwürdigen Gesellschaft irgendwo in Amerika

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Von Menschen erwartet man nicht immer Gutes, und vor allem nicht immer so etwas wie zivilisiertes Verhalten. Wenn aber Europäer ihre humanen Anachronismen gerne aus der ehemaligen Sowjetunion, aus Süditalien oder dem Balkan beziehen, haben die US-Amerikaner ihre Vergangenheit in ihrem eigenen Land konserviert. Irgendwo da draußen, wo die Highways nur noch schnell an allem vorbeiführen, was es dort geben mag, leben Menschen auf dem zivilisatorischen Niveau einer Urzeit, die anscheinend lange vor der Kolonisierung des Kontinents begonnen hat.

Man wohnt zwar in Häusern, aber wenn es hart auf hart kommt, sind es Höhlen, in denen die Menschen überwintern. Man kennt zwar das System von Lohnarbeit, Gesetz, Politik, Recht und Ökonomie, aber Konflikte werden hier immer noch gewalttätig ausgetragen, zum Teil in Sippenkämpfen, bei denen es keine Gnade gibt. Und was in Europa als Schattenwirtschaft existieren mag, hat hier gleich eine kriminelle Seite: Wer hier lebt, kocht Meth und steht permanent unter Drogen. Die Polizei vertritt das große Andere und ist als Kombattant nicht wirklich ernst zu nehmen. Zur anderen Seite zu gehören macht eben auch weich.

Frauen und Männer sind von einigermaßen modernen Verhaltensstandards weit entfernt, was einschließt, dass die Frauen nicht minder gewalttätig sind als ihre Männer. Beiden will man eigentlich nicht begegnen, nicht einmal tagsüber.

Dennoch hat diese Gesellschaft Regeln, und zwar sehr viele. Das Problem ist nur, so der Onkel der Heldin, dass keiner alle Regeln kennt und jeder sich damit behelfen muss, sich durchzulavieren, auf das Risiko hin, dass eine einfache Frage zum Beispiel zu einem Ausbruch an Gewalt führt oder auf eine dargereichte Suppe eine Salve von Ohrfeigen und Tritten folgt.

In solchen Gegenden werden die Leute früh erwachsen und altern schnell, auch wenn nur wenige von ihnen alt werden. Sie kennen sich und Ihresgleichen sehr gut. Die Sippen mögen zwar weit verzweigt sein. Dennoch weiß jeder immer sehr gut Bescheid darüber, wer mit wem verwandt ist und über welche Ecken. Das hilft Allianzen zu schaffen und Grenzen zu erkennen, was vor allem dann wichtig ist, wenn ansonsten das Überleben arg ungesichert ist.

In solch eine Gesellschaft hat Daniel Woodrell seine Geschichte platziert: Die 16-jährige Ree muss sich um die demente Mutter und ihre beiden kleinen Brüder kümmern, der Vater, Jessup, ist verschwunden. Schlimmer noch, jemand hat für ihn beim Ortssheriff eine Kaution hinterlegt, aber wenn Jessup zum Gerichtstermin nicht erscheint, dann verfällt die Kaution und das Haus geht an den Gläubiger. Dann stünden die vier auf der Straße oder müssten in eine Höhle ziehen. Das haben andere vor ihnen auch schon getan.

Die Familie ist arm, der Vater ein drogensüchtiger Kleinganove, der das Blaue vom Himmel verspricht, aber wenig davon einhält. Er verschwindet immer wieder, dieses Mal scheint er aber nicht zurückzukehren. Ree ist sicher, dass er tot ist, und nun sucht sie seine Leiche, denn wer tot ist, kann nicht vor Gericht erscheinen. Ergo behalten sie das Haus.

Nun sind Krimileser, was das Thema Suche angeht, daran gewöhnt, zwischen zwei Alternativen zu wählen: zwischen den altmodischen Ermittlern, die nach Motiv und Gelegenheit fragen, und den neumodischen Wissenschaftlern, die Spuren suchen, die sie zum Täter zurückverfolgen.

Rees Suche ist dabei offensichtlich mehr von der Variante 1 inspiriert, aber mit Abweichungen: Sie ist keine Ermittlerin, sie sucht ihren Vater. Sie sucht ihn auch nicht – um damit ein anderes starkes Thema der letzten Jahre zu berühren –, um ihre Identität zu klären, sondern um die Existenz der Familie zu erhalten. Und dafür muss er nun einmal tot sein.

Und schließlich sucht sie genau dort, wo sie sich sowieso aufhält, nämlich in jenem archaischen sozialen Umfeld, das ihr Leben ausmacht: Sie geht auf Männer und Frauen zu, die nicht nur ihre eigenen Interessen verfolgen. Sie begeht damit ein soziales Feld, das von jahrzehntealten Konflikten und Auseinandersetzungen geprägt ist und in dem es kein Pardon gib. Die Kinder erben die Sünden und den Hass der Väter und Mütter.

Sie wird stets misstrauisch beäugt, und immer sind es die Frauen, die die erste Linie bilden, wenn sie an einen neuen Ort kommt, in dem ein anderes Sippenteil oder eine andere Sippe lebt. Sie wird, wenn möglich, verjagt. Sie spricht mit Männern und Frauen, die ihr keine Antwort geben. Sie wird geschlagen und getreten.

Aber sie bleibt hartnäckig. Was eben die andere Seite dieser unzivilisierten Gesellschaft ist. Wer hier nicht hart ist, geht unter. Wer hart ist, verdient Respekt. Und der wird am Ende auch mit einem Erfolg belohnt, der selbst wieder auf diese urtümliche Gesellschaft zurückverweist.

Woodrell erzählt diese Geschichte in einem sachlichen, zurückgenommenen und kaum engagierten Ton. Das tut seiner Geschichte gut, die bereits mit ihrem Plot über das Krimi-Gewohnte hinausgeht. So aber ist diese unzivilisierte Geschichte einer jener Fälle, mit denen das Krimi-Genre nicht rechnen kann.

Titelbild

Daniel Woodrell: Winters Knochen. Roman.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Peter Torberg.
Liebeskind Verlagsbuchhandlung, München 2011.
223 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783935890762

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