Von der Einheit mit sich selbst

Judith Gruber-Rizy widmet sich im dritten Teil ihrer Rosa-Roman-Trilogie der Suche nach Identität

Von Andreas TiefenbacherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Andreas Tiefenbacher

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dass „durch Druck von außen“ die Lebensgestaltung beeinflusst wird, ist für Frauen aus kleinstädtischen Verhältnissen in Österreich während der 1950er-Jahre Realität. Auch für Rosas Mutter, die als knapp 40jährige eigentlich nur ein Kind haben möchte, „aber nicht unbedingt einen Ehemann“ dazu. Und doch bleibt ihr nichts anderes übrig, als den Vater des Kindes (trotz fehlender großer Liebe) zu heiraten, „weil ein uneheliches Kind für ihn […] als Kleinstadtpolitiker“ nicht tragbar scheint. Sie tut es dann „schwanger und mit Bauch“. Und es gibt so wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg nicht nur „keine Hochzeitsgeschenke“, man kehrt auch sofort wieder zum Alltag zurück: Großmutter und Mutter fahren auf den See hinaus, um zu fischen, die Tante versieht ihren Dienst als Krankenschwester im örtlichen Krankenhaus und der Vater ist unterwegs, auf Versammlungen und Sitzungen.

Vier Monate später ist Rosa da. Sie wird „in ein rundherum von Frauen geprägtes Haus hineingeboren, […] in ein Großmutter-Tante-Mutter-Rosa Leben“ mit einem „nur zeitweilig am Rande“ vorbeistreifenden Vater. Denn während „die neugeborene Rosa im Säuglingszimmer“ liegt, ist er „bei seiner Politik“; kommt auch sonst „nur zum Essen und Schlafen“ nach Hause, hat er doch „immer […] Wichtigeres zu tun, [als] bei Familie und […] Kind“ zu sein. „Am Leben im Vierfrauen-Haus“ beteiligt er sich nicht, verlangt aber dann von der Mutter, dass sie mit ihm in einen anderen Ort zieht. Er holt Rosa und die Großmutter später zwar nach, ist allerdings egoistisch genug, um sich eine Geliebte zuzulegen und vorübergehend aus der gemeinsamen „Untermietwohnung“ auszuziehen. Wenig später steht die Mutter dann auch noch „ohne Einkommen“ da, weshalb ihr nichts anderes übrig bleibt, als „die Vertretung einer Möbelpolitur“ zu übernehmen.

Ihre neue Tätigkeit empfindet sie selbst zwar als „demütigend“, ihre Tochter Rosa nimmt sie während dieser Zeit jedoch als „starke Mutter“ wahr, die „diesen Hauch von Alles-schaffen-Können“ vermittelt, „diese Gewissheit, die Dreifrauenfamilie durchbringen zu können, […] auch ohne Mann“.

Weil sie sich – so selbständig, unabhängig und freiheitsliebend sie auch sein mag – dann doch immer wieder ihrem Mann unterordnet, vermag sie genauso wenig wie die Großmutter „ein starkes Frauenvorbild“ für Rosa abzugeben. Die genießt es zwar, „in der Geborgenheit von Großmutter, Mutter und Tante“ zu leben, tendiert aber ansonsten mehr zum Vater, obwohl ihr „die körperliche Nähe zu ihm […] unangenehm ist“, weil er im Grunde „nur Fremdsein […] an Rosa weitergibt“. Dennoch eifert sie ihm nach. Dass er ein „umherschweifendes Kometenleben“ führt und mit nichts mehr glänzt als durch seine Abwesenheit, scheint aus ihrer Sicht eher für als gegen ihn zu sprechen. Schließlich will Rosa „eine richtige Vatertochter“ sein. So setzt sie heimlich seinen Hut auf, um „sich in der Vaterverkleidung stark und mächtig und erwachsen“ zu fühlen. Und doch meldet sie erste Rebellionsbereitschaft gegen das Weiblich-Mädchenhafte an: Sie empfindet ihren Vornamen als „zu zart und brav“, will keine rosafarbenen Kleidungsstücke tragen und „vom Vater endlich beachtet“ werden. Deswegen lernt sie nicht nur Ski fahren, sondern strebt auch ein „hartes, kumpelhaftes Männergehaben“ an.

Dass sie damit nur auf ihren Vater hereinfällt und sich durch ihr Abgrenzen gegenüber den Frauen vollständig den Männern ausliefert, wird ihr allerdings erst viel später bewusst. Zuerst geht sie zum Studieren in die Stadt, beginnt zu rauchen, Lederjacken zu lieben und „eine Zeitlang sogar Motorrad“ zu fahren, um sich „ein wenig vom jungen Vater“ zurückzuholen, der in ihrer Erinnerung „immer ein Wegfahrender“ ist, was sie jahrelang mit einem Gefühl des Alleingelassenwerdens kämpfen lässt. Über den „Hang zum betont Männlichen“ versucht sie dies zu kompensieren, übernimmt die Meinung ihres Vaters, treibt „die Ablehnung der Mutter […] auf die Spitze“, sodass sie in Verachtung umschlägt. Sie verändert ihr Aussehen. Sie magert ab, bis sie „die äußersten Grenzen der Unweiblichkeit“ erreicht und man ihr nicht mehr sofort ansieht, „welchem Geschlecht sie nun eigentlich angehört“. Und sie ergreift auch noch „den Vater-Wunschtraum-Beruf“ und wird (um nicht „perspektivlos dahindriften“ zu müssen) Schriftstellerin.

Als solche, die sie „gerne und mit Leidenschaft“ ist, stellt sie sich nun ihrem Leben, will ihre Kindheit „klar analysieren“, die sich ihr „eingebettet in überlieferte Geschichten und eingebettet in ihr Gefühl von Berg und See“ nach und nach erschließt.

Die Auseinandersetzung mit ihrer „Kindheitsgeschichte“ entpuppt sich jedoch als mühsames Unterfangen, umso mehr als sie erkennen muss, wie „grauenvoll zerrissen zwischen Vater und Mutter“ sie gewesen ist. Nicht nur dadurch wird der Wunsch, „Klarheit über sich zu erhalten, groß. Das Ableben der Eltern verstärkt diesen schließlich noch, öffnet es doch plötzlich ihren Blick für ein neues, ein anderes, ein „Mehr-Sehen“. Die ganze Wahrheit über sich und ihre Familie will sie in Erfahrung bringen. „Auf der Suche“ danach kommt sie allerdings ins Driften. Sie bemerkt, dass es „verschiedene Wahrheiten“ gibt und auch „die eigene Wahrheit sich ändert im Lauf der Jahre“.

Mit der Zeit entfernt sie sich immer mehr von der „Vater-Stromlinienförmigkeit“, die auf „Männer-Meinungen, Männer-Büchern, Männer-Filmen“ et cetera basiert, und tauscht sie gegen „Frauen-Meinungen, Frauen-Bücher, Frauen-Filme“ et cetera. ein. Am Ende gelingt es ihr, den „Schwindel der Orientierungslosigkeit“ hinter sich zu lassen und von der einstigen „Querlagigkeit“ hin zu einer „ausgewogenen Sichtweise“ zu driften. Die unterstützt sie dabei, dass sie sich von der „Vater-Verherrlichung und Mutter-Ablehnung“ lösen und nach Jahren des unkontrollierten Treibens im Lebenssee „unumkehrbar als Frau […] in der Gesellschaft installieren“ kann.

Damit einher geht auch eine körperliche Wandlung, die Rosa von der einstigen Sehnsucht, „männlich zu wirken“, wieder weg und „langsam an weibliche Formen“ heranbringt, was schlussendlich darin gipfelt, dass sie ihren „neuen, runderen, üppigeren Körper [dann sogar] als schön empfinden“ kann.

Im Mittelpunkt der erzählperspektivisch zwischen erster und dritter Person changierenden Romans steht „die Sozialisierung eines Mädchens als Frau mit allen Widersprüchen, die dabei auftauchen“. Es geht vorwiegend um Fragen der „Anpassung und Nichtanpassung“. Und es geht darum, „wie es möglich ist, dass ein Mädchen sich auf die Männerseite stellt und versucht, dem Frausein zu entrinnen“.

In nicht minder beeindruckenden Passagen verhandelt der Roman aber auch den Prozess des Schreibens an diesem „Kindheitsbuch“. Dabei wird deutlich, dass je tiefer Rosa in ihrer Rolle als Schriftstellerin in die Vergangenheit eintaucht, desto schmerzhaftere Erinnerungen werden zu Tage gefördert. Doch „keine Begebenheiten“ sind erfunden. In gewisser Weise schreibt sie daher einen Tatsachenbericht. Und dabei gibt sie sich der Drift hin und erreicht neue Bewusstseinsufer, die frei von „Vaterlast“ und „Mutterschuld“ sind. Über sie erlangt Rosa Zugang zur „Einheit mit sich selbst“. Gleichzeitig bewirkt dieses „Wortdriften“ auch, dass ihre „Erinnerungsbilder […] ausufern wie Wilder Wein“. Daran zeigt sich, dass dieses Vordringen „zum so ganz ich selbst“, welches das ultimative Ziel von Rosas Entwicklungsreise markiert, nicht frei von „Abwegen [und] Sackgassen“ ist. Es führt die Protagonistin über drei Stationen: „Vom Großmutter-Kind zur Vater-Tochter und endlich, in reifem Frauenalter, zur Rosa-Zeit“.

Bei der Erstellung von Rosas Lebensmosaik geht die aus dem oberösterreichischen Salzkammergut stammende Autorin sehr gewissenhaft vor, hat „immer diese Landschaft vor Augen. Den See und den großen felsigen Berg“, in dessen Nähe sie selbst die ersten Lebensjahre verbracht hat. Auf der Grundlage ihrer Erfahrungen gelingen Gruber-Rizy nicht nur sehr genaue Stimmungsbilder; sie schafft es auch, Rosas Gefühlslagen und deren Schwankungen in beeindruckende sprachliche Formen zu gießen. Ihre Worte haben Gewicht und können „dennoch driften“. Die Autorin treibt auf ihnen dahin „wie auf einem Floß“. Auch das ist ein Zeichen ihrer Könnerschaft. Denn es ist schon bemerkenswert, mit welcher Authentizität und Genauigkeit Gruber-Rizy ihre Geschichte erzählt.

Die Befürchtung, dass sie „an diesem Buch scheitern werde“ (welche sie Rosa in den Mund legt), bewahrheitet sich nicht. Im Gegenteil. Mit „Drift“ bringt Judith Gruber-Rizy ihre Rosa-Roman-Trilogie, deren ersten beiden Teile: „Aurach“ (Bibliothek der Provinz) und „Einmündung“ (Kitab Verlag) 2002 und 2008 erschienen sind, zu einem fulminanten Abschluss.

Titelbild

Judith Gruber-Rizy: Drift. Roman.
Edition Art Science, Wien 2009.
175 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783902157546

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