Junge Kritik als Erneuerung

Ulrich Rüdenauer hält vom Krisengerede nicht viel

Von Ulrich RüdenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Rüdenauer

Vorgestern war die Welt noch einigermaßen in Ordnung. Zwei Finger wirbelten über die Tastatur des Computers und bastelten an einer kleinen Rezension für ein Stadtmagazin. Mit anderen Worten: Es lief ausnahmsweise erstaunlich gut, der selbst genehmigte Urlaub strahlte schon am anderen Ende der Woche und lockte mich mit dem Versprechen dumpfen Nichtstuns. Dann kam der Literaturkritiker B. zu Besuch. B. ist einer jener Menschen, die ein ausgeprägtes Talent dafür haben, in einer an Einsilbigkeit grenzenden Prägnanz der Welt ihre tiefe Verdorbenheit nachzuweisen. Im Grunde ist das sympathisch, vor allem aber ist es ansteckend. Ein paar persönlichere Ratschläge, die man eher der Kategorie Runterbringer zuordnen muss, gab es gratis als Zugabe. Fortan lief es nicht mehr so gut: Das war der erste Vorbote einer Sinnkrise, man muss es so sagen.

Am nächsten Tag wollte gar nichts mehr funktionieren: Was gestern noch als angenehmer, aus dem Handgelenk geschüttelter und ziemlich treffender Text erschien, drängte nun in den virtuellen Papierkorb. Ich löschte, um nochmals ganz von vorn zu beginnen. Heute war Redaktionsschluss. Und dann rief Herr H. an: "Was ist nun mit der Glosse über den jungen Literaturkritiker im Besonderen und die Krise der Literaturkritik im Allgemeinen?", fragte er. Ich zögerte. Stress. Panik. Schwitzende Hände. "Da müsse man doch eine Meinung... Das könne auch ganz kurz sein..." Freilich. "Ja, also dann."

Ich fasse einmal knapp zusammen, um Zeit zu schinden: Über den Stand der Literaturkritik sind momentan mal wieder zwei Meinungen im medialen Umlauf, und die stehen sich, vorsichtig ausgedrückt, einigermaßen konträr gegenüber: Matthias Politycki behauptet eine Krise der Kritik, was daran liege, dass die Profi-Leser nicht mehr zwischen wirklicher Literatur (zum Beispiel Polityckis) und irgendwelchen aufgeplusterten Attrappen und Mode-Erscheinungen ("die Popliteraten") unterscheiden könnten. Er vermutet, "dass die Kriterien nicht mehr passen, nach denen man bis vor kurzem noch Literatur beurteilen konnte" und dass dieses Manko durch "verschärft privatistische Geschmacksurteile zu überspielen" versucht werde. Herr Politycki ist über vierzig, sein letztes Buch war... naja, es kam nicht so gut an.

Auf diese Anwürfe antwortete prompt der junge Kritiker Kolja Mensing, der in der "taz" schrieb: "Die Literaturkritik ist nicht in der Krise, sondern in einer Experimentierphase". Neue Formen würden entstehen, Argumentationen stünden gleichberechtigt neben Beschreibungen der eigenen Befindlichkeit oder des Zimmers, in dem man sich gerade befindet, und am Ende könne es dann zum vernichtenden Urteil kommen: "Nicht cool". Freilich gibt es noch andere Wortmeldungen zum Thema, aber vielleicht sollte man sich auf diese beiden beschränken, weil sie sich auf gewisse Weise mit dem Phänomen des jungen, sich den neuen Marktbedingungen scheinbar nicht mehr kritisch nähernden und zwischen "hoher" und "niederer" Literatur nicht mehr unterscheidenden Kritikers auseinandersetzen, und um den soll es hier ja gehen.

Abends kam meine Freundin aus dem Verlag nach Hause. Ich erzählte ihr von dem irgendwie verkorksten Tag. Dann las ich ihr vor, was ich in einem ersten verzweifelten Versuch, einen anständigen Text hinzukriegen, notiert hatte: "Wahrscheinlich ist die Literaturkritik in einer Krise, aber natürlich ist das gut. Vermutlich ist die Literaturkritik in einer permanenten Krise, und sie ist es umso mehr, je stärker sie dem Druck anderer Medien standhalten muss. Krise = Selbstreflexion, also Besinnung auf die eigenen Stärken, aber auch darauf, die anderen Medien in das eigene Medium zu integrieren, auf sie zu verweisen, Querverbindungen aufzuzeigen. Die Rede vom neuen, jungen Kritiker fällt mit der über die Krise der Kritik unweigerlich zusammen. Die jungen Kritiker sind die Krise, eben weil sie sich einerseits von den alten Säcken abheben wollen, aber auch in gewisser Hinsicht von ihnen geprägt sind (das mögen die alten Säcke wahrscheinlich noch weniger). Die so genannte Krise der Kritik findet naturgemäß an der Stelle statt, an der Kritik immer stattfindet, im Feuilleton. Das Krisengerede dient nicht zuletzt der Reproduktion dieses Systems Kritik. Krisengerede ist Kommunikation: Man möchte sich darüber klar werden, was jetzt kommen soll. Krisengerede entsteht dann, wenn ein Paradigmenwechsel sich ankündigt oder stattgefunden hat, oder wenn dieser zumindest latent in der Luft liegt, aber gar nicht sich ereignet. Oder wenn Judith Hermann hold vom Buchcover lächelt, und die Kritik naturgemäß erst einmal glotzt statt zu lesen."

Ganz so originell sei das ja nicht, meinte sie. Und auch nicht wirklich eine Glosse. Da müsse ich wohl noch dran feilen, und sie hatte recht. So etwas kann man unmöglich abgeben. Da geht der Ruf flöten, bevor man überhaupt einen hat. Ich muss, dachte ich, einfach mal eine Nacht darüber schlafen. Aber ich konnte vor Hitze und Unzufriedenheit nicht einschlafen. Also erklärte ich meiner Freundin um zwei Uhr morgens - meine Freundin, die in einem festen Arbeitsverhältnis steht, schlief bereits, ich habe eher so gegen die Wand vor mich hingemurmelt -, ich versuchte also zu erklären, was ich von einer Literaturkritik erwarte, ich kürze das hier ein bisschen ab: Man würde ja in einer Kritik am liebsten eine Geschichte erzählt und nicht nur nacherzählt bekommen. Man würde darin also etwas über das Buch erfahren und zusätzlich noch etwas ganz anderes. Nur nebenbei: "Manchmal machen Kritiken mehr Spaß als Bücher", sagt mein Freund Rolf. Andererseits - die Bedürfnisse gehen da auch ganz schön auseinander. Meine Bekannte Hanna liest prinzipiell keine Kritiken, obwohl sie viele Bücher liest. Sie schaut sich allerhöchstens die Überschriften der Rezensionen an, weiß dann, welche Bücher in dieser Saison heftig zugetextet werden, kauft sich das eine oder andere, weil ihr der Titel gefällt oder sie den Autor oder die Autorin ohnehin schon kennt und gut findet und lebt dahin als stille Hermeneutikerin. Wer liest Kritiken? Kritiker und Literaten, Lektoren und wer sonst noch zur literarischen Community dazugehört und -gehören möchte. Wenn es hoch kommt. Einschlägige Wirkung auf das Kaufverhalten von Lesern haben wohl eher die Literaturtipps in der Frauenfachzeitschrift Brigitte.

Meine Freundin, ungeduldig, im Halbschlaf gestört: "Zur Sache, Schätzchen: Woran liegt's aber, darum geht es hier doch wohl, dass die Literaturkritik als Ganzes so tief in der Krise steckt?"

Hm. Tut sie das eigentlich wirklich? Ist nicht eher der gesamte Literaturbetrieb in der Krise? Mehr oder weniger immer? Kann man das ernsthaft der Kritik in die Festplatte schieben? Und hält die nicht, zumindest in den großen Zeitungen, noch einigermaßen dagegen? Hat sich tatsächlich in den letzten Jahren so viel gewandelt? Einige neue, popsozialisierte Menschen haben ein paar Feuilletonspalten unter ihre Kontrolle gebracht, aber werden wir nicht in den meisten Fällen immer noch in hohem professoralem Ton darüber belehrt, was beachtenswert ist und was nicht? Also, vielleicht kann ich erst noch einmal sagen, was ich von einer Kritik will: Natürlich möchte ich darüber informiert werden, von wem oder was das Buch handelt, was möglicherweise sein Thema ist, in welche Geschichte man hineingerät, in welches Universum, wenn man sich denn entschließen sollte, das Buch zu kaufen und aufzuklappen. Auch möchte ich wissen, was dem Rezensenten beim Lesen des Buches widerfahren ist: Welche hübschen Ideen der Text bei ihm angeschubst hat (auch wenn sie womöglich abwegig sind), welche Stellen ihm (nicht) gefallen haben, ob die Sprache sich mit seiner verstanden hat und dadurch dann auch der Text über den Text irgendwie ins Sprechen gerät, spricht, zu mir, zu den idealen, unbekannten Zeitungslesern, die, wenn sie sich auf die Kritik einlassen, potentielle Buchleser sind, ob uns das Buch irgendwie gefehlt hat und wir es vermissen müssten, wenn es nicht da wäre. Das darf aber, und das ist wichtig, nicht so offen gesagt werden, nicht so plump daher kommen. Es soll eher so im Text mitlaufen, als Hintergrundsound. Nur in Ausnahmefällen möchte ich wissen, dass der Rezensent sich beim Rasieren geschnitten hat, weil ihm der Text so nahe gegangen ist. Das Wichtigste aber: Schafft es die Form, dem irgendwie bewegenden Inhalt gerecht zu werden, ganz egal, ob es sich dabei um ein Werk von Martin Walser oder Sven Lager handelt. "Darauf kommt es doch eigentlich an, auf das Innovative des vor einem liegenden Kunstwerkes, das sich in seiner Form manifestiert", sagt unser Freund Richarto Luchtel. Und das muss also jetzt beschrieben werden, und es muss als Mangel kenntlich gemacht werden, wenn es eben fehlt, das Innovative, oder besser: das vorher so noch nicht Gelesene.

Das sind ja ziemlich hohe Anforderungen an den jungen Kritiker, sagte meine Freundin, nun wieder hellwach. Ja, sagte ich, und irgendwie scheitert man mehr oder weniger immer daran, weil man Dinge übersieht oder weglassen muss oder nicht präzise erläutern kann. Man müsste letztlich einen eigenen Ton finden, in dem das besprochene Buch zum Klingen gebracht wird: Mein Lieblingskritiker zum Beispiel schreibt hauptsächlich über Pop, und seine Platten-, Konzert- und Bücherbesprechungen werden zu perfekten Drei-Minuten-Popsingles, zu letztlich ganz eigenständigen Kunstwerken, deren Lektüre Gewinn und Genuss verschafft - einen Finger würde ich mir dafür abhacken, mich wie der große Thomas Groß einem Gegenstand nähern zu können. Bildlich gesprochen.

Was ist das Coole an der Literatur, fragte ich meine Freundin am nächsten Morgen: "Wahrscheinlich sie nicht zu verstehen, sie also erst einmal nicht zu verstehen, zuerst einmal verwundert zu sein, sich, ausgehend vom Selbstzweifel, den man immer mit sich herumträgt, an das Fremde heranzutasten, das einem da entgegen steht, und sich zu freuen daran, dass auch der Autor über das ihm Bekannte hinausgegangen ist, im besten Fall."

Das ist ja alles schön und gut, aber irgendwie immer noch nichts für eine Glosse über den jungen Literaturkritiker und die Krise der Kritik. Noch, zum Beispiel, habe ich ja gar nichts Besonderes über den jungen Kritiker gesagt, und zur Krise fällt mir auch nichts Wesentliches ein. Vielleicht, dachte ich, liegt's daran, dass du gar nicht richtig im Literaturbetrieb drin bist, sondern ihn nur so beobachtest. Aber vielleicht ist auch das eine Fehleinschätzung, raushalten kann man sich nie ganz. Ich schrieb dann also Herrn H. einen Brief, worin ich mich entschuldigte, dass ich jetzt doch nichts schreiben könne, weil zu viel andere Arbeit angefallen war, dass ich ohnehin im Moment keine Krise sehen könne, sondern als Journalist zu arbeiten ohnehin eine ständige Krise ist, vor allem eine finanzielle, und dass die Kriterien, wie Literatur zu besprechen sei, vermutlich benannt werden könnten, aber am nächsten Tag zum Teil schon wieder zu verwerfen wären, und anderer Plattitüden mehr. Kurzum: Ich halte von dem Krisengerede nicht viel und mich, was den jungen Kritiker (und freilich die junge Kritikerin) betrifft, bis auf weiteres an Rainald Goetz, Abfall für alle, Seite 354 ff. Das fängt so an: "Kritik ist die offene Stelle, an der neue Schreiber den Raum der öffentlichen Rede am besten entern können. Sie kommen von außen, dringen ein, und im Inneren wird jetzt allein dieses von außen Kommende aktiv als Kapital: Neuheit, Außenwissen und Nichtwissen schaffen so Erneuerung." Wäre das nicht schön?!