Gedankenströme eines Flughafen-Flaneurs

Xaver Bayer zeigt in seiner Erzählung „Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen“ dem Helden den Weg in die primäre Wirklichkeit

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nicht-Orte“ – so nennt der französische Ethnologe Marc Augé die anonymen Durchgangsräume der modernen Gesellschaft wie Einkaufszentren, Bahnhöfe und Flughäfen, wo man in der Menge allein sein kann. So wie früher einmal Hotels sind sie vielleicht heute die für die mobilitätsfixierte Konsumgesellschaft zeittypischen Erfahrungsräume, an denen auch die Literatur nicht vorbeigehen kann. Nach Angelika Overath mit ihrer Erzählung „Flughafenfische“ (2009) hat nun auch der junge österreichischer Erzähler Xaver Bayer dieses Setting gewählt. Statt drei Personen beschränkt er sich auf einen namenlosen Ich-Erzähler, der seinen Gedankenmonolog in einem einzigen, über 120 Seiten führenden Satz unterbringt. Dieser Ich-Erzähler, ein junger globaler Nomade mit Rucksack und Kamera, dem Flughäfen vertraut sind, muss auf dem Brüsseler Flughafen ein paar Stunden auf seinen Weiterflug warten und flaniert gelangweilt durch die Hallen. Im mäandernden Gedankenstrom, nur durch Kommata gegliedert, geht flüchtig oder auch minutiös Beobachtetes – sei es ein Fleck auf einer Theke oder Kohlensäurebläschen im Glas – assoziativ über in Fantasien oder auch Erinnerungen an früher Erlebtes; eine Linie ist dabei nicht recht zu erkennen. Leitmotivisch wiederholen sich Fotosituationen: der Held, der mit niemandem in näheren Kontakt tritt, sieht sich selbst im Fokus von Überwachungs- und anderen Kameras und beobachtet selbst fotografierende Andere.

Der Kamerablick, ja überhaupt mediale Apparaturen wie Handy und Computer, haben seine Weltwahrnehmung so geprägt, dass es keinen „unschuldigen“, unverstellten Blick mehr gibt. Eine kleine Erinnerungsepisode verdeutlicht diese zwischen Real- und elektronischer Symbolwelt gespaltene Wahrnehmung: Als er einmal in einem Athener Internetcafé den Namen seiner Freundin in die Suchmaschine des Computers eingab, lenkte ihn eine Fliege auf dem Monitor ab, die er mit dem Cursorpfeil wegzujagen suchte. Als er darauf das Café verließ – klar, wie aus einer Narkose erwacht –, hatte er bezeichnenderweise einen Unfall – sekundäre (Computerbildschirm) und primäre Wirklichkeit (Fliege) erweisen sich als inkompatibel.

Der Reisende ist „angeödet […] von der allzu großen Vertrautheit all dessen, was zu sehen ist“ und sehnt sich nach einer Wirklichkeit hinter den Dingen. Ihm erscheint „die Wirklichkeit irgendwie hyperrealistisch“. Obwohl das fotografische Verhältnis zur Welt befreiender sein sollte als das sprachlich-begriffliche, scheint die Welt nurmehr die Summe ihrer technischen Abbilder zu sein. Der Held, im Herzen ganz Romantiker, hofft, „dass sich hinter der Einfachheit das Unfassbare verbirgt, durch einen Spalt schimmert es hervor“. Umso bedeutsamer sind für ihn die Dinge, die – so sagt er einmal – für ihn so lebenswichtig seien wie für den Taucher das Luftholen. Eine Wende bringt ein etwas abgelegener Ort im Flughafenterminal, den er als einzigen bei seinem Flanieren zum zweiten Mal aufsucht: fünf  karge Andachtsräume für die Hauptreligionen und einer für Konfessionslose. Nun würde diese vom Autor glücklich ausgewählte Realie mit viel Suggestionspotenzial für sich genommen schon zum Nachdenken anregen: Gerade die Reduzierung auf das Substitut eines minimal ausgestatteten Funktionsraumes zwischen Wickelräumen und Duty-free-Shop, in groteskem Kontrast zu den eigentlichen Gebetsräumen der Weltreligionen, unterstreicht den Glauben als Grundbedürfnis neben anderen in einem ansonsten traditionslosen Nicht-Ort wie dem Flughafen, relativiert ihn aber auch zugleich wieder. Obwohl areligiös, geht der junge Reisende die Räume der Reihe nach ab und kommt im letzten, in der Moschee, zur Ruhe. Xaver Bayer vermeidet nun glücklicherweise die Gefahr, die sich hier aufdrängt: Nämlich diesen Ort, der zum Flughafen gehört, aber auch eine Oase der Besinnung im Getriebe darstellt, plakativ zum Schauplatz eines religiösen Erweckungserlebnisses zu machen.

Gleichwohl: Der Held hat eine kosmische Vision, auch wohl begünstigt durch den stetigen Genuss einer aus Langeweile gekauften Flasche japanischen Whiskys: „es ist, als würde ich meinen Körper verlassen und die Welt vom Mond aus sehen“. Nun erscheint ihm sein ganzes bisheriges Leben als verfehlt, als unablässige, rationale Optimierung eines sich selbst reproduzierenden natürlichen Prozesses im Zeichen einer „defätistischen Vernunft“, leer und desinteressiert in seiner selbstbestimmten Geschäftigkeit. Der Gedankenstrom fließt weiter –  bis zur Erinnerung an einen „Nachmittag, an dem in mich der Samen des Wandels gepflanzt wurde, den ich jetzt zum ersten Mal seit langem als zarten Keimling wieder spüre“.

Kinder, die in einem Park selbstvergessen Steine ins Wasser werfen – hier endlich findet der Titel von Bayers Erzählung seine Aufschlüsselung – werden schließlich zum In- und Leitbild eines neuen Lebens, dem der Erzähler zustrebt. Statt zum Gate macht er sich auf zum Ausgang und beginnt eben diese Geschichte zu erzählen. Die zivilisationskritische Story und das Erzählmuster einer Offenbarungserlebnisses beziehungsweise einer Wandlung sind nicht neu – oft schon haben Schriftsteller von einem unentfremdeten Leben im Einklang mit der Natur geträumt – , doch hier wird die Geschichte ohne das narrative Hilfsmittel einer Begegnung mit einem anderen Menschen erzählt.

Bayer verzichtet auch darauf, dem Gedankenstrom mittels Sprachwitz einige Glanzlichter aufzusetzen, um den Leser bei der Stange zu halten. In der leichten Zähigkeit und Sprödigkeit teilt sich etwas vom Zeiterleben des Wartenden mit. Die statische Wartesituation mit dem ziellosen Flanieren und die ihr korrespondierende erzählerische Darstellungsform des Bewusstseinsstroms entfalten letztendlich doch eine Dynamik, die zu etwas Neuem führt und so das Wandlungserlebnis des Protagonisten plausibel macht. Doch auch ohne diese Schlusswendung wäre der Text, der nicht gleich auf der Stelle den Leser für sich einnimmt, allemal lesenswert: als zeitdiagnostisches Porträt einer Bewusstseins- und Lebensform im globalisierten Medienzeitalter, in der sich mancher wiedererkennen könnte –  gepaart mit einer poetischen Wahrnehmungsschärfe, die an den Peter Handke der „Journale“ gemahnt.

Titelbild

Xaver Bayer: Wenn die Kinder Steine ins Wasser werfen. Erzählung.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2011.
119 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-13: 9783902497871

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