Mehrstimmiges Schweigen

Emmanuelle Paganos Missbrauchsgeschichte aus der Provinz

Von Almut OetjenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Almut Oetjen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Emmanuelle Paganos kurze Romane „Der Tag war blau“, „Die Haarschublade“ und nun auch „Bübische Hände“, die bei Wagenbach verlegt werden, spielen in der französischen Provinz. In „Der Tag war blau“ arbeitet Adèle nach ihrer Geschlechtsumwandlung als Fahrerin des Schulbusses in ihrem Dorf, wo sie nicht erkannt wird, bis am Ende alles bekannt wird. „Die Haarschublade“ erzählt von einer Minderjährigen, die ein Kind bekommt, dessen Gehirn durch Sauerstoffmangel geschädigt ist. Sie bricht die Schule ab, arbeitet im dörflichen Friseursalon, macht schlechte Erfahrungen mit Männern und wird mit achtzehn erneut schwanger.

Im Zentrum von „Bübische Hände“ steht eine Frau, die vor rund dreißig Jahren in einem französischen Dorf Opfer einer Tat wurde, deren Schatten bis heute wie ein Fluch über dem Dorf liegen. Paganos „Roman“ ist in vier innere Monologe von Bewohnerinnen der Gegend gegliedert. Keine dieser inneren Stimmen gehört dem Opfer.

Die erste Stimme ist die einer Ehefrau, die sich in ihren vierziger Jahren befindet. Sie ist mit dem Besitzer des Weinguts La Pierre Mauve verheiratet, hat ein kleines Tier im Ohr und weiß nicht mehr, ob sie die Worte der Anderen richtig versteht. Sie hat ihren Mann aus einer Art Missverständnis geheiratet. Ihre Erinnerungen an die Schulzeit und Jugend vermischen sich mit Reflektionen über die Gegenwart.

Eine Frau um die sechzig liefert den zweiten Monolog. Sie ist Mutter zweier Söhne, einer verheiratet mit Tochter, der andere ungebunden. Sie bewohnen gemeinsam das Gehöft La Pénibe und betreiben dort eine Maronenkultur, züchten Schafe und Ziegen.

Den dritten Monolog führt eine achtzigjährige ehemalige Grundschullehrerin im Altenheim L’Ensoleillée, den vierten die Enkelin der Frau von La Pénibe. Äußerer Anlass der Monologe ist die Einladung ehemaliger Mitschüler auf das Weingut.

Die Tat wird uns stückweise und diskontinuierlich vermittelt. Das Schweigen über den Missbrauch wird nicht gebrochen, allenfalls auf dem Empfang gibt es ein paar Äußerungen indirekter Natur. Der Rest spielt sich allein in den Köpfen ab. Das Opfer ist Emma, im Schuljahr 1979/80 die beste Schülerin ihrer Klasse. Heute ist sie die Putzfrau im Winzerhaushalt und im Altenheim, wo sie sich um die Lehrerin von damals liebevoll kümmert.

Die Täter von damals haben unbeschadet ihr Leben fortgesetzt und mittlerweile überwiegend den Ort verlassen. Abgesehen von den Großgrundbesitzern sind nur die Verlierer, wie sie an einer Stelle genannt werden, dort geblieben. Weder über die Justiz, noch moralisch sind die Täter zur Rechenschaft gezogen worden. In der Terminologie menschlicher Katastopheninteraktion gibt es drei Formen der Beteiligung: als Täter, Opfer und Zuschauer. Mindestens eine Zuschauerin hat es gegeben: die Lehrerin, die bewusst weggesehen hat. Die beiden Brüder unterscheiden sich in wichtigen Parametern: der eine ist Vater des zehnjährigen Mädchens, züchtet Schafe und ist ein Täter von damals, der andere, Claude, züchtet Ziegen, ist alleinstehend, beschützt seine Nichte und hat sich damals geweigert, sich zu beteiligen, weshalb er als Schwuchtel und Tucke beschimpft wurde und heute noch so gesehen wird.

Pagano arbeitet extrem metaphernlastig, manche Leser mögen dies auch als poetisch bezeichnen. Ihre Bilder verorten das Fühlen und Denken der Menschen in der sie umgebenden Natur. In mehrfacher Hinsicht wichtig sind Fäden von Spinnen und Seidenraupe. Sexuell konnotiert sind die Fantasiewelten der Enkelin, in denen ein Einhorn lebt.

Im Monolog der Enkelin wird die kreisförmige Struktur der Erzählung überdeutlich. Die Geschichte wird sich, so die Prognose, wiederholen. Die Denkbeiträge unterscheiden sich in der Form eher wenig, im Inhalt sind sie ähnlich. Emmas Aufzeichnungen liest die Winzersfrau als Hardcore-Gedichte. Emma selbst sagt zur Lehrerin, die das Heft in ihrem Kittel sieht, es enthalte Kleinmädchen-Albträume. Dies ist der größte Abstand, der in den Monologen hergestellt wird.

Die Tat selbst wird gedanklich umkreist, wie dies bei Zuschauern und Gaffern, die sich tief drinnen irgendwie schuldig fühlen, nicht unüblich ist. Die Monologe sind dabei ähnlich konstruiert: Wiederholungen, besonders im ersten Monolog; Aufnahme eines Fadens, dessen Verlust und Wiederaufnahme, wobei es gelegentlich zu gedanklichen Verknotungen kommt.

Die Monologe erzeugen keine konsistente Erzählung, sondern Erinnerungsfragmente mit vielen Leerstellen. So entsteht eine Collage aus rund dreißig Jahre zurückliegenden Ereignissen, die die Frage aufwerfen, wie und ob sich Erinnerungen sinnvoll verbinden lassen. Die Monologe gleiten durch die Metaphern und die verschiedenen märchenhaften Sequenzen in imaginäre Nachbildungen von Realität ab.

Titelbild

Emmanuelle Pagano: Bübische Hände. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2011.
139 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783803132369

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