Erotik und kein Entkommen

David Manns Analyse der erotischen Urszene

Von Sabine KlomfaßRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sabine Klomfaß

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Erotik kommt in David Manns Buch "Psychotherapie: eine erotische Beziehung" eine zentrale Bedeutung zu. Mann geht davon aus, dass in nahezu jeder psychoanalytischen Begegnung eine (homo- oder hetero-) erotische "Übertragung" und "Gegenübertragung" stattfinden. Das bedeutet, der Patient bringt seine persönliche Erotik in die Analyse ein, die symbolisch auf eine ödipale oder prä-ödipale Ur-Erfahrung von Sexualität und Macht verweist. Das wiederum heißt in anderen Worten: Aufgrund einer ständig präsenten Erotik überträgt der Patient eine Rolle auf den Analysierenden, der sich in seiner eigenen "erotischen Subjektivität" innerhalb dieser Beziehung wiederfinden muss. Und dies impliziert, dass jede Beziehung zwischen Menschen, die sich auf einer Ebene des Verstehens begegnen wollen, erotisch gedacht werden muss: "Es gibt keine Position außerhalb des Erotischen. Jeder Versuch, das Erotische zu verstehen, ist an sich bereits ein Akt erotischer Entwicklung: ein Akt der Liebe und Intimität auf den tiefsten Ebenen."

Der Autor betrachtet so Erotik fast wie ein Existential des Menschen in dyadischer Beziehung zum Anderen. Die erste Erfahrung dieser Art, die "Ur-Szene", manifestiert sich in der Regel als asymmetrische Kind-Elternteil-Relation. Ihr muss zentrale Bedeutung zugesprochen werden, da die Menschen ihr ganzes restliches Leben damit verbringen, sich zu dieser Ur-Szene zu verhalten: entweder affirmativ (indem die Ur-Beziehung mit dem jeweiligen Partner immer wieder neu inszeniert werden soll), oder negierend (indem versucht wird, dieser Ur-Szene nie wieder eine Form von Wirklichkeit zukommen zu lassen).

Der Autor betont, dass innerhalb einer psychotherapeutischen Beziehung die Erotik nicht konkret ausgelebt werden sollte, dass kein körperlicher Kontakt stattfinden sollte, da die Psychotherapie nur ein 'künstlicher' Raum ist und dennoch ein Ort, wo Erotik inszeniert wird und sich wechselseitig vollzieht. Aber die Erotik in der Analyse zum Thema zu machen ermöglicht, die Ur-Szene des einzelnen Patienten aufzudecken, zu verstehen und damit einen Abstand gewinnen. Sobald man sich nämlich von seinem eigenen 'Beweggrund' distanzieren kann - und nichts anderes heißt dann "Psychoanalyse" - wird es vom Unbewussten ins Bewusste gehoben. So kann durch Analyse idealerweise Genesung erreicht werden. Dies belegt der Autor mit einer Reihe von Fallbeispielen, die alle dasselbe Muster aufweisen: sobald in der erotisch-therapeutischen Beziehung die Ur-Szene des Patienten entschlüsselt ist, findet eine spontane Genesung oder wenigstens ein erheblicher Schritt in Richtung Heilung statt.

Wie schon angedeutet, ist die Ur-Beziehung von jeher asymmetrisch: das Kind begegnet dem viel mächtigeren Erwachsenen und begehrt gleichzeitig, als ebenbürtig anerkannt zu werden. Dieses Moment von Asymmetrie findet sich folglich, als Verweis auf die Ur-Szene, überall im Zusammenhang mit Erotik: man begehrt den Menschen, der als wertvoller oder mächtiger als man selbst erachtet wird. Freud verstand dies als einen Versuch, "die Autorität [des Anderen] durch seine Herabsetzung zum Geliebten zu brechen". Dies stellt zunächst ein Hindernis für eine Analyse dar, da die tatsächlichen Rollen 'Analytiker und Patient' in Frage gestellt und verschleiert werden. Der Autor jedoch zeigt auf, dass mit dem Wissen um die erotischen Momente zugleich ein tieferes Verstehen ermöglicht wird: "Liebe ist blind, führt aber auch zu Einsicht und größerem Verständnis, wenn die Liebenden einander psychisch wie auch körperlich zu erforschen versuchen." Damit thematisiert Mann (nach der Erläuterung der Ursachen) einen weiteren wichtigen Aspekt der Erotik, nämlich die ihr eigene Kraft. Die Erotik bewegt etwas, sie ist "Tatendurst". Der Mensch ist sogar bereit, seine Grundannahmen in Frage zu stellen, indem er das will, was er selbst nicht ist. Die Erotik wird verstanden als Begehren des Unbekannten, und zwar radikal: Nicht nur als ein distanziertes Wissen-Wollen um das Selbst des Anderen, sondern als ein "intimster Kontakt", bei dem alles auf dem Spiel steht, alles entstehen und ebenso alles verloren gehen kann.

Ohne dabei die Gefahr des Verlusts verharmlosen zu wollen, liefert die Erotik in diesem Sinne als "Möglichkeit zur Transformation des Selbst" die idealen Ausgangsbedingungen für eine gelingende Therapie: das Überschreiten-Wollen des eigenen Ichs in allen seinen sedimentierten Grenzen und selbstgesetzten Hindernissen - und auch die Kraft, dies tatsächlich durchzuführen.

Titelbild

David Mann: Psychotherapie: Eine erotische Beziehung.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 1999.
338 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 3608919333

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch