Schluss mit Gleichgültigkeit, Beschönigungen und Beschwichtigungen!

In seiner Studie „Armut in einem reichen Land“ kritisiert Christoph Butterwegge die verbreitete Praxis, das Problem der Armut in Deutschland zu verharmlosen

Von Esther MenhardRSS-Newsfeed neuer Artikel von Esther Menhard

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Immer wieder taucht in der politischen Diskussion über den Umfang einer Grundsicherung für arbeitslose Menschen die Frage auf, ob Personen in Arbeitslosigkeit ein Armutsrisiko tragen; in welchem Umfang eine Grundsicherung ausfallen muss, um existenzsichernd zu sein; wo die Grenze zur Armut verläuft – und schließlich: ob es Armut in Deutschland überhaupt gibt beziehungsweise ob man davon sprechen kann, dass es Armut in Deutschland gibt.

Der Kölner Politikwissenschaftler und bekannte Armutsforscher Christoph Butterwegge verteidigt in seiner jüngeren Untersuchung „Armut in einem reichen Land“ die Auffassung, dass man sehr wohl davon sprechen kann, dass es Armut in Deutschland gibt. Er verteidigt diese Auffassung gegen Stimmen, die das Problem verharmlosen beziehungsweise es verharmlosen wollen. Im Rahmen der Diskussion um eine Definition des Armutsbegriffes wird stets angeführt, dass Vergleiche mit der Armut in der Dritten Welt, mit dem Elend dort verdeutlichen können, dass die deutsche Form der Grundsicherung für Menschen in armen Ländern Reichtum und hierzulande ein bequemes Leben bedeuten würde (Walter Krämer).

Meinhard Miegel geht soweit, dafür zu plädieren, den Begriff „Armut“ in Deutschland und Europa weit nicht mehr zur Beschreibung bestimmter gesellschaftlicher Zustände zu benutzen. Armut wird hier mit großem Elend beziehungsweise Verelendung, die von Hunger und einem extremen Mangel an lebensnotwendigen Gütern geprägt ist, gleichgesetzt. Vor dem Hintergrund dieses Gedankens wurde die Unterscheidung von absoluter und relativer Armut entwickelt. Diese Unterscheidung jedoch vertuscht nach Butterwegge die Tatsache, dass es auch in der Bundesrepublik Elendserscheinungen von Hunger und Kälte gibt und dass soziale Ausgrenzung und Unterversorgung als Begleiterscheinungen von Armut auch hierzulande zentrale, schwerwiegende und folgenreiche Probleme im Alltag von vor allem Kindern und Jugendlichen sind.

Daneben kritisiert Butterwegge, dass die Bedeutung der materiellen Not beziehungsweise Unterstützung reduziert wird, indem ständig geistige Armut als eigentliches Problem bezeichnet wird. Eine solche Form der Argumentation hat nach Butterwegge letztlich das Ziel, jede Diskussion um eine Erhöhung des Grundregelsatzes zu unterbinden und für überflüssig zu erklären.

Den Schwerpunkt seiner Arbeit setzt Butterwegge auf die Untersuchung dessen, wie Armut in den Medien dargestellt wird. Er arbeitet dabei im zweiten und längsten Kapitel heraus, dass sich die Tendenz zu Diffamierung armer Menschen beziehungsweise Grundsicherungsbeziehern bereits über einen langen Zeitraum entwickelt hat. Er stellt die Entwicklung des Verständnisses von Armut seit den Anfängen der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren vor und illustriert anhand einiger Beispiele aus bekannten Medien wie „Spiegel“, „Bild“ oder „Zeit“, wie Armut als peripheres Phänomen dargestellt und als unangenehmes Thema nahezu unter den Teppich gekehrt wurde und wird. Beispiele für einen zynischen Unterton in der Medienberichterstattung lassen sich bereits in den 1960er-Jahren finden. So heißt es etwa in einem „Spiegel“-Artikel vom 8. Dezember 1965: „Aus dem Almosen der Gemeinde, das […] zu Kaisers Zeiten mit dem Verlust des Wahlrechts und einer empfindlichen Beschneidung der Freizügigkeit verbunden war, wurde eine Art sozialer Kundendienst.“

Ein Gang durch die Sozialgeschichte der Armut verdeutlicht einen Wandel der Rezeption des Begriffes wie des Phänomens. Galt Armut in der unmittelbaren Nachkriegszeit als ein allgemein geteiltes Schicksal, wurde sie schließlich in der Ludwig-Ära zum kalkulierbaren Problem, das praktisch nur beziehungsweise höchstens für bestimmte Risikogruppen wie Frauen, Kinder, Alte und Kranke aktuell wurde.

Weil unter anderem Massenmedien aktiv an der Vorbereitung eines unerlässlichen „Reformklimas“ mitgearbeitet haben, ist Armut beziehungsweise Bedürftigkeit mittlerweile eine Tatsache, die alle Generationen betrifft, vor der uns auch keine gute Ausbildung zu bewahren vermag – ebensowenig wie das Arbeitslosengeld II. Vielmehr bedeutet der Bezug von Hartz IV nach Butterwegge, bereits in Bedürftigkeit zu leben und ein hohes Armutsrisiko zu tragen, das heißt dem Risiko ausgesetzt zu sein, dauerhaft in Armut zu leben.

Die Medien konzentrieren sich bei der Verharmlosung beziehungsweise dem Schönreden eines unangenehmen, nach Butterwegge systembedingten  gesellschaftlichen Phänomens, das stets in einem dialektischen Verhältnis zum Phänomen des Reichtums gesehen werden muss, vor allem auf Menschen, die Hartz IV beziehen. Sie sind zur Zielscheibe einer vielfältigen Hetzaktion (Martin Staiger) geworden, die multimedial abläuft. Vor allem auf Privatsendern laufen vermeintliche „reality“-Sendungen wie „Gnadenlos gerecht – Sozialfahnder ermitteln“ (Sat.1), in denen gecastete Menschen für ein Entgelt das Klischee des lustlosen, antriebsschwachen und ungepflegten Hartz-IV Empfängers bedienen sollen.

Eine grundlegende Vorstellung dieses weit verbreiteten Bildes der Armut besteht nach Butterwegge in der Annahme, dass Menschen nicht arbeiten wollen und sich die Grundsicherung erschleichen. Aus dieser Annahme wird regelmäßig geschlossen: dass man höhere Arbeitsanreize schaffen müsse; dass Menschen zur Arbeit gezwungen werden müssten; dass sie zu jeder Arbeit gezwungen werden könnten; dass man von Hartz IV Beziehern eine Gegenleistung erwarten könne. Vermeintlich wissenschaftlich werden diese Schlussfolgerungen durch Thilo Sarrazin in „Deutschland schafft sich ab“ als gerechtfertigt dargestellt. Dort betont er die Eigenverantwortung jedes Einzelnen. Seiner Ansicht nach ist das Arbeitslosengeld II bislang sogar noch zu hoch angesetzt. Sobald ein arbeitsloser Mensch nach Sarrazin die Möglichkeit hat, sich – wie es zum gängigen Schlagwort geworden ist – in der „sozialen Hängematte“ einzurichten, wird er niemals die Anstrengung unternehmen, dort heraus- beziehungsweise selbst zu Arbeit zu kommen. Daher vertritt Sarrazin die Auffassung, dass der Bezug von Hartz IV derzeit gar nichts mit Armut zu tun hat.

In der Einleitung kündigt Butterwegge an, dass zum einen diejenigen Leser mit seinem Buch richtig liegen, die erwarten, über das Problem der Armut, der sozialen Ausgrenzung und der Unterversorgung differenziert in Bezug auf deren Entstehung und Entwicklung informiert zu werden. Zum anderen sollen mit seinem Buch aber vor allem auch diejenigen Leser bedient werden, die sich erhoffen, „den Umgang von Politik, (Medien-)Öffentlichkeit und Fachwissenschaft damit fundiert kritisieren und sich an der Diskussion über seine Ursachen sowie mögliche Gegenmaßnahmen in unterschiedlichen Bereichen, etwa Wirtschafts-, Steuer-, Bildungs-, Gesundheits-, Familien- und Sozialpolitik, sachkundig beteiligen“ zu können. Dieser Ankündigung wird seine Untersuchung gerecht, insofern die Lektüre des Buches zu einem differenzierteren Verständnis der politischen Armutsdebatte führt und zudem die Wahrnehmung in Bezug auf dieses Thema im alltäglichen beziehungsweise medialen Kontext schärft.

Schon bei der Lektüre sensibilisiert das erste Kapitel, in dem ein Abriss der wissenschaftlichen Forschung zum Thema „Armut“ in Bezug auf Begriff, Definitionsproblematik und verschiedene Theorieansätze geboten wird, für das zweite Kapitel. Und das zweite Kapitel, das die Diffamierung armer Menschen durch die Massenmedien thematisiert, bereitet auf den letzten Teil vor, in dem es um die sinnvolle Durchführung der Armutsbekämpfung beziehungsweise um ihre Fehleranfälligkeit geht.

Die Untersuchung ist klar und nachvollziehbar strukturiert und verständlich formuliert. Butterwegge überzeugt durch einen wachen Blick auf gesellschaftliche Entwicklungen, Phänomene und Bewegungen. Eine große Hilfe ist auch das Literaturverzeichnis, in dem die Literaturhinweise nach Themenschwerpunkten und Fragestellungen geordnet sind.

Titelbild

Christoph Butterwegge: Armut in einem reichen Land. Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird.
Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2009.
378 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783593388670

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