Nüchternheit und Pathos

Thomas Harlan rechnet in „Veit“ mit seinem Vater ab

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Thomas Harlan (1929-2010) hat einen lebenslangen Kampf mit seinem familiären Erbe geführt. Der Name Harlan warf einen Schatten auf seine Existenz als Filmemacher und Schriftsteller – insbesondere verknüpft mit dem Vornamen seines Vaters: Veit.

Veit Harlan gilt bis heute als Inbegriff des willfährigen Nazikünstlers. Der Regisseur der Filme „Jud Süß“ (1940) und „Kolberg“ (1945) hat sich nie von seinen propagandistischen Machwerken lösen können. Auch sein Sohn Thomas kämpfte gegen diesen beschädigten Ruf an, wie sein letztes Buch „Veit“ eindrücklich bezeugt.

Darin rollt er seine Erinnerungen an den Vater neu auf und deckt dessen Lebenslügen auf. Die Verantwortung für den Film „Jud Süß“ übertrug Veit Harlan gerne an den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels, der ihn dazu gezwungen habe – eine „Unwahrheit“, die sein Sohn nicht gelten lässt. Deshalb übernimmt er selbst für seinen Vater die Verantwortung dafür: „Wenn du dein Verantwortung nicht trägst, gestehe ich sie mir ein, ich übernehme sie an deiner Statt“. Und deshalb ruft er nochmals die Dreharbeiten in Erinnerung, zitiert die grässliche Postkarte, die ihm sein Vater damals schrieb. „Die Juden arbeiten gerne mit mir“, stand darauf, und zwar jene Juden, die wenig später ermordet wurden. Ein schwer verdaulicher Satz unter den gegebenen Umständen und ein eindrückliches Zeugnis für das Funktionieren der nazistischen Mordmaschinerie. Niemand schien Gewissensbisse zu empfinden bei seinem Tun. Auf diesen Aspekt zielt Thomas Harlan, er lenkt den Blick auf die Helfershelfer des Terrors, die sich auch bei den Dreharbeiten zu „Jud Süß“ willfährig zeigten: „Bereits am Vormittag des 15. März ließ Blaurock-Kallmeyer von einem Fuhrwerker vier Statisten und Kleindarsteller herbeischaffen, die Fuchs, wie zuvor mein Vater für seinen Film, ausgewählt hatte, sperrte sie in eine Badekammer des Durchgangslagers Belzec und probte noch am selben Tag um zwei Uhr nachmittags den Tod im Gas.“

„Veit“ ist eine Abrechnung. Das Buch wühlt in einem Gewirr ambivalenter Gefühle, die sich in Thomas Harlans Biografie und in sein Werk eingebrannt haben. Seine Beziehung zum Vater war geprägt von Anziehung und Abwendung. Er suchte seine Liebe und seinen Respekt, wohl wissend, dass die von Veit Harlan verdrängte Nazikarriere stets auch ein Hindernis dafür darstellen musste. Allem voran die Schlusspassage in „Veit“, über eine kurze Begegnung Tage vor dem Tod Veit Harlans im April 1964, gibt ein bewegendes Zeugnis dieser widerstreitenden Emotionen. Thomas Harlan, der sich radikal vom Vater abwandte, fühlt sich ihm trotz allem zugetan. Sein Buch bezeugt beides, Ablehnung und Liebe: „Verzeih, dass ich Dich vergessen habe, dass ich Dir meine Treue entzog und meine Sohnesliebe, dass ich an Dir entlangging, als wärest Du eine Landschaft, ein Abgrund, als hätte ich verhüten wollen, in ihn zu stürzen, in Dir umzukommen. Ich bin in Dir umgekommen.“

Das hohe Pathos dieser stakkatohaften Passagen – glaubhaft und nie lächerlich wirkend – mündet in den Schlusssatz: „Ich habe Dich geliebt. Lass mich Dein Sohn sein, Dein ältester, lass mich. Dein Sohn“.

Eine solche Liebesbezeugung klänge kitschig, trüge sie nicht Thomas Harlans Handschrift. Er verfügt über eine sprachliche Kraft und Inständigkeit, die selbst solcherlei zu sagen vermag. „Veit“ ist ein schillerndes Zeitzeugnis (mit ergänzenden Dokumenten und Anmerkungen versehen) und zugleich ein ambivalentes, intimes Vaterbuch, in dem Thomas Harlans Schwanken zwischen Hin- und Abwendung erfahrbar wird. Die Versuche des Sohnes, den Vater zu verstehen, provozierten ihn 1959 dazu, nach Polen zu fahren, um dort in Archiven Zeugnisse für Naziverbrechen zu suchen. Dafür wurde er ausgewiesen und in Deutschland wegen Landesverrats angezeigt.

Die kraftvolle, sich endlos windende, zugleich präzise Sprache macht auch seine Prosabücher, die neu im Taschenbuch aufgelegt worden sind, zu großartig starken, irritierenden, unruhigen Leseerlebnissen. Nach filmischen und theatralischen Arbeiten hat Thomas Harlan in den letzten Jahren zwei Romane und einen Erzählband veröffentlicht, jedes Buch für sich ein irrlichterndes Prosastück, in dem Pathos und Nüchternheit, Dokumentarismus und Mysterium, Klarheit und Verwicklung zu einer ganz und gar eigenwilligen Einheit gelangen. Sie zeichnet Thomas Harlans Prosa aus.

Der Roman „Rosa“ (2000) erzählt von Rosa, der polnischem Kollaborateurin, die mit dem Nazi Franz Maderholz verlobt war. Nach dem Krieg lebt sie mit ihrem Mann Józef zusammen, der im Verdacht steht, sein erste Frau umgebracht zu haben. Sie wohnen in einem Erdloch in der Nähe von Chelmno, deutsch Kulmhof – im Schatten des gleichnamigen Massenvernichtungslagers, das 1941-1943 in Betrieb war. In einer Folge von kurzen Kapiteln blättert Harlan die Geschichte dieses Lagers auf: seine Tötungsmaschinerie, die Täter und die Mitläufer. Dabei gleitet der Blick von den dokumentarischen Fakten hinüber auf die Landschaft, und zugleich ins Allegorische. Die Tatsachen allein vermögen nicht zu klären, welche Monstrositäten hier geschehen waren. Die Gravität der Landschaft konstrastiert mit der sich überstürzenden, verschlungenen, von Unrast gezeichneten Sprache, die keine Ruhe finden kann. Rosa und Jozef hausen in der Asche der Opfer.

Ein vergleichbares Thema greift der voluminöse Roman „Heldenfriedhof“ (2006) auf, worin sich Harlan abermals mit aller Kraft und Energie der Gräuel der Vergangenheit annimmt. Der Roman setzt mit einem Rätsel ein. Am 26. Mai 1962 entdeckt ein Verwaltungsbeamter auf dem Triestiner „Heldenfriedhof“ am Grab eines NS-Schergen 15 Leichen. Exakt von diesem Ereignis wurde gleichen Tags in der örtlichen Zeitung berichtet. Der prophetische Artikel wurde vom Autor Enrico Cosulich verfasst, der sich in der fraglichen Nacht vom 25. auf den 26. Mai in der Risiera di San Sabba einschloss, wo 1944 seine Mutter auf Nimmerwiedersehen verschwunden war.

Wie geht das zusammen? Von diesem Mysterium ausgehend beginnt Thomas Harlan die Spuren, Masken und Identitäten der Täter und ihrer verschlungenen Fluchtwege nach dem Krieg aufzuspüren. Dabei demonstriert er abermals dieselbe Unrast und Unstetigkeit, die Dokumente zusammenwirft und ins Fiktive ausfasern lässt. Er vergräbt sich förmlich in Geschichten von Tätern, verfolgt ihre Netzwerke bis in die feinsten Verästelungen. Findung und Erfindung überlagern sich dabei. Was ist Wahrheit, fragt er, was ist wirklich? Gibt es eine Wahrheit hinter der historischen Tatsächlichkeit? Thomas Harlan beantwortet die Frage nicht, er überlässt es seinen Lesern, die dieses Romanmonstrum für sich selbst verarbeiten müssen. Vieles daran ist eine Zumutung, und dennoch behält Harlans atemloser Sprachduktus eine Faszination, der man sich nicht leicht entzieht. Das Grauen der historischen Fakten und Denkbarkeiten erhält hier eine überwältigende, ja gewalttätige Form.

Der labyrinthische Erzählband „Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben“ (2007) schließlich lenkt Harlans Optik über die Nazigräuel hinaus: stalinistischer Terror, Iran, Armenien und Vietnam geraten in den Fokus seiner Aufmerksamkeit für Gewalt, Herrschaft, Vernichtung. Derartiges taucht immer wieder an unterschiedlichen Orten neu auf, vergleichbar der mythischen Stadt Ys, die untergründig durch die Erde wandert und überraschend ihr Haupt erhebt. Um Erzählungen im klassischen Sinn handelt es sich hier nicht, vielmehr verspinnt Thomas Harlan verschiedenste Erzählfäden virtuos, zugleich verwirrend ineinander, wiederholt Motive, öffnet Räume ins Mythische und Abgründige und dokumentiert sie faktisch. Einer dieser Texte („Schwanensee“) erzählt, dass Stalin 1937 die Geburtsstadt Tschaikowskis, Wotkinsk, die untertunnelt war von kriegswichtigen Waffenfabriken, 59 Kilometer südöstlich nochmals aufbauen ließ, um die Waffenindustrie vor Angriffen zu schützen. Fakt oder Fiktion? Wo verläuft die Grenze, welche Widersprüche birgt die Geschichte? Andernorts gibt der Erzähler hierauf eine Antwort: „überbrücken kann man Widersprüche ohnehin nicht, nur auflösen“ – darauf lässt sich Harlan aber nicht ein.

„Die Stadt Ys“ gibt nochmals Zeugnis einer irrlichternden Obsession ihres Autors Thomas Harlan. Seine Texte sind schwierig, in ihrer stakkatohaften Überfülle zuweilen ärgerlich, zugleich phantastisch anregend und niemals gleichgültig in ihrer erzählerischen Motivation. Darin besteht die unnachahmliche Handschrift dieses Kämpfers gegen das Vergessen der Geschichte (und wider seinen eigenen kontaminierten Nachnamen). Thomas Harlan blieb stets ein unnachsichtiger Aufklärer ohne voreilige Versöhnlichkeit. Im Vaterbuch zuletzt hat er sich letztere hart erkämpft.

Titelbild

Thomas Harlan: Die Stadt Ys und andere Geschichten vom ewigen Leben. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 4.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
300 Seiten, 9,99 EUR.
ISBN-13: 9783499256905

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Titelbild

Thomas Harlan: Heldenfriedhof. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 3.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
711 Seiten, 10,99 EUR.
ISBN-13: 9783499256899

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Titelbild

Thomas Harlan: Rosa. Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Band 2.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
237 Seiten, 8,99 EUR.
ISBN-13: 9783499256882

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Titelbild

Thomas Harlan: Veit.
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011.
160 Seiten, 17,95 EUR.
ISBN-13: 9783498030124

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