„Dichter, Krieger, Seelensucher“

Über die Kleist-Biografie des Journalisten Peter Michalzik

Von Anton Philipp KnittelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anton Philipp Knittel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Kleist-Rezeption der Gegenwart, dass in jüngerer Zeit zwei Mal ausgewiesene Kleist-Experten und renommierte Journalisten quasi zur gleichen Zeit mit voluminösen Biografien auf den Markt treten. Waren es 2007 der emeritierte Melbourner Germanist Gerhard Schulz und der überwiegend für die „Süddeutsche Zeitung“ arbeitende Journalist Jens Bisky, so sind es im Kleist-Jahr im Gedenken an die 200. Wiederkehr des Todestages des Dichters der Kölner Germanist und langjährige Präsident der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft, Mitherausgeber des Kleist-Jahrbuchs, Günter Blamberger, und der Journalist der Frankfurter Rundschau, Peter Michalzik, die fast zeitgleich eine fast 600 beziehungsweise über 550 Seiten starke, ähnlich aufgemachte Biografie des lebenslang unbehausten Dichters aus Frankfurt an der Oder vorlegen. Entstanden sind in den „wiederholten Spiegelungen“ (um mit Kleists Antipoden Goethe zu sprechen), bleibende Werke, die in den nächsten Jahren sicherlich die Diskurse um den Glücks- und Seelensucher Bernd Heinrich Wilhelm von Kleist weiter befeuern werden.

Mag die Vorliebe des literaturwissenschaftlich interessegeleiteten Rezensenten der Blambergerschen Biografie auch den Lorbeerkranz zusprechen, so bleibt es das nicht hoch genug zu lobende Verdienst von Peter Michalzik, den geschärften Blick vor allem auf den „Krieger“ Kleist und seine Zeit gerichtet zu haben. Jedenfalls ist nicht zuletzt dank der Studien von Blamberger, Michalzik, Kreutzer, Amann, Schulz, Bisky, Kraft, Loch und Co. die Kleist-Philologie in der überaus glücklichen Lage, über gleich mehrere unterschiedlich gelagerte Einführungswerke und Biografien zu verfügen, die über die Tagesaktualität hinaus Bestand haben dürften. Was allerdings nottut, hier jedoch nicht geleistet werden kann, ist eine kritische Würdigung und Zusammenschau der biografischen Forschung der letzten Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, eine Aufgabe, die sich im Übrigen sowohl auf einen fundierten Überblick über die Kleist-Rezeption im Ausland als auch in weitere Bereiche ausdifferenzieren ließe.

Michalzik geht es um den doppelgesichtigen Kleist. Denn da ist zum einen „die Geschichte eines schwer zugänglichen, merkwürdig verstockten Menschen, der lange als einer der großen Einsamen der deutschen Literatur galt“. Und da ist zum anderen aber auch die „Geschichte eines agilen jungen Mannes in einer Zeit der Umbrüche, Kriege und Neuerungen“ zu erzählen, eben jenes Projektemachers und Krisenspezialisten, als den ihn Günter Blamberger in seiner Biografie schildert. Ein Unbehauster, der quer durch Europa reist, mit 14 Jahren in den Soldatenstand tritt und damit der langen Familientradition folgt, mit 21 Jahren die vorgezeichnete Offizierslaufbahn mehr oder weniger plötzlich wieder aufgibt, sich in seiner Heimatstadt Frankfurt (Oder) als Student einschreibt, nach drei Semestern auch das Studium wieder aufgibt, der quer durch Europa reist, der in der Schweiz Bauer werden möchte, als preußischer Verwaltungsbeamter in Königsberg dient, Kriegsgefangener in Frankreich ist, mit ambitionierten journalistisch-publizistischen Unternehmungen in die Öffentlichkeit strebt, um am Ende mit der verheirateten Henriette Vogel am 21. November 1811 am Kleinen Wannsee in Berlin aus dem Leben zu scheiden, um nur einige Stationen zu nennen.

Beide Geschichten – die des dynamischen wie die des grüblerisch-melancholischen Kleist – verbindet Michalzik, um es vorweg zu sagen, zu einem spannenden und lesenswerten Ganzen. Auch wenn es ihm dabei „primär nicht um neue Erkenntnisse“ geht, wie er im Vorwort betont, soll das „Gesagte vor der Wissenschaft bestehen“ und zugleich „einiges Neue über Kleist“ bereithalten. Ein Anspruch, den Michalzik voll und ganz erfüllt und das noch in einer lebendigen Sprache, die den Leser stets mitnimmt, wenn sie Kleist als „ein Abbild seiner Zeit“ verlebendigt.

Als ein solches Abbild seiner Zeit tritt der „Krieger“ Kleist für Michalzik paradoxerweise dann erstmals plastisch in Erscheinung, als er sich entschlossen hat, den familiär vorgezeichneten Berufsstand eines Offiziers aufzugeben, nämlich am 18. März 1799, als er diesen Entschluss seinem alten Lehrer Christian Ernst Martini per Brief mitteilt. „Es ging ihm um sich selbst. Glück, Tugend und Bildung waren vor allem Werte für Selbstentfaltung“, bemerkt Michalzik, um wenig später zu pointieren: „Man muss hier, am Anfang, noch nicht an Kleists Tod denken, man muss in dem Mut der Verzweiflung, den man aus seinem Lebensplan herauslesen kann, wie er dieses sein Selbstbildungsprojekt bald nennen wird, nicht den Vorgeschmack des Selbstmords spüren. Man sollte keine mysteriöse Todessehnsucht oder dunkle Tragik in Kleists Leben hineindichten, wie wenn von Anfang an der Schatten des Todes über ihm gelegen hätte“, betont Michalzik hier noch ganz auf „Blamberger-Linie“, der in seiner Biografie den Projektmacher und Experimentierer Kleist nicht von seinem Ende her verstehen und verstanden wissen will. Und dennoch betont Michalzik: „Seine Entscheidung von 1799 und sein Tod von 1811 hängen zusammen.“ Denn bereits mit dem radikalen Entschluss von 1799, mit der Familientradition zu brechen, wird – allerdings erst vom Ende her – deutlich, „dass er in der Welt, auf die er hoffte, nie ankommen sollte und auch nicht ankommen konnte“.

Kenntnis- und detailreich schildert Michalzik diese Welt, etwa den „Garnisonsalltag“ oder die verschiedenen „Dienstgrade“ innerhalb der preußischen Armee, wobei es angesichts einiger Zahlen und Daten für den Leser ungemein hilfreich sein mag, dass der jeweilige rechte Seitenkopf den Inhalt angibt, während auf dem linken Seitenkopf die jeweilige Kapitelüberschrift wiederholt wird. Das liest sich dann, mitunter etwas blumig und weitschweifig, in etwa so: „Hauptbestandteil des Garnisonsalltags war das Exerzieren. Es war, neben der Wache, die zentrale Aufgabe von Offizieren und Mannschaften. Exerziert wurde in der Regel vormittags. Es bestand im Aufmarschieren, in den vielen exakt auszuführenden Handgriffen wie dem Schultern und Präsentieren des schweren Gewehrs. Dazu gehörten die Geschwindigkeit des Nachladens und das Einüben im absoluten und exakten Gleichmaß der Bewegungen, die die Voraussetzung für das uhrwerkartige Funktionieren dieser Armee und ihre jahrzehntelange Überlegenheit gewesen waren.“

Oder so: „Die Ausbildung der Junker der Infanterie fand vor allem am Gewehr statt, das wie die Fahne sehr schwer war. Das erlebte Kleist in den ersten Monaten seines Militärdienstes 1792. Der Dienst begann bei der ersten Dämmerung, nach der Parade wurden sie von einem Leutnant exerziert, sie besuchten am Nachmittag die Junkerschule und wurden dann weiter exerziert. Jeden siebten Tag mussten sie ‚visitieren‘: Mit geladenem Gewehr wurden die Reviere der Mannschaften untersucht. Man kann sich vorstellen, dass das nicht immer reibungslos und harmonisch ablief. Mindestens viermal im Monat, eigentlich alle vier Tage, mussten sie auf Wache. Mit letzten Kräften standen sie dann nachts bei der Schildwacht. War es auch noch kalt, wurde das zu einer besonders schwer durchzustehenden Aufgabe. Es war jedoch verpönt, um Ablösung zu bitten. Erleichtert wurde die Aufgabe für den Gefreiten-Korporal, weil er oft in die Offizierswache hereingeholt wurde – ein Privileg, das er dem gemeinen Gefreiten voraushatte. Hier konnte er essen und wenigstens auf einem Stuhl sitzen, wenn schon nicht schlafen.“

Michalzik schildert in zwei Kapiteln zunächst die Soldatenjahre und die Potsdamer Zeit zwischen 1795 und 1799, um dann „Krieg und Kindheit“, die Zeit zwischen 1777 bis 1795 zu beleuchten. Dabei räumt er unter anderem mit der Mär von den finanziell klammen Kleists auf, indem er unter anderem vorrechnet, was sowohl der Vater als auch Kleist verdient haben und welchen Wert der Familienbesitz hatte: „Angesichts des verarmten Kleinadels, den es in Preußen überall gab, waren die Familienverhältnisse der Kleists nachgerade feudal.“

Vor jeder sich anschließenden chronologisch geordneten Zweiergruppe schaltet der Buchautor (unter anderem über Gustaf Gründgens und Siegfried Unseld), Theaterkritiker und Kulturjournalist Michalzik jeweils ein „Zwischenspiel“ ein. Zunächst fragt er „Wie sah Kleist aus, wie sprach er?“, um sich unter dem Stichwort „Zweite Jugend, Bildungsreise“ den Stationen Frankfurt und Würzburg im Jahr 1799 zu widmen. Trifft sich Michalzik mit der Einschätzung, wonach sich mit Kleist und seinem Frankfurter Dozenten Christian Ernst Wünsch „zwei verwandte Seelen“ begegnet seien, mit der Einschätzung von Blamberger, der in Wünsch einen Projektemacher par excellence sieht, so differieren sie etwa in der Einschätzung der Würzburger Reise. Während Blamberger pointiert, dass das Geheimnis der Würzburger Reise darin zu finden sei, dass es kein Geheimnis gibt, liegt es für Michalzik in den Liebesbriefen: „Die Briefe, die Kleist nun schreiben konnte, waren nicht Ersatz für etwas anderes, sie waren der Kern. Zugespitzt muss man sagen, es ging bei der Würzburger Reise um die Liebesbriefe.“

Während Blamberger diese gegen ihre germanistischen Kritiker, die aus ihnen im wesentlichen Schulmeisterei, wenn nicht gar Sadismus entnehmen, als Ausweis der Rousseau-Lektüre Kleists verstanden wissen will, findet sich Michalzik mit seiner Einschätzung ganz auf der Kritikerseite: „Von Liebe, Zuneigung; Innigkeit, Vertrauen findet sich in den Briefen fast nichts. Zärtlichkeiten sind sehr selten. Diese Briefe sind alles andere als gewöhnliche Liebesbriefe. Es sind Briefe, in denen die Braut nicht berührt wird, sondern in denen sie rigoros und rücksichtslos erzogen wird, und zwar zu einer durchaus untertänigen Rolle. […] Kleist war in den Briefen inquisitorisch, und er war impertinent. Es mutet wie eine Gehirnwäsche an, was Kleist versuchte.“

Teilt Blamberger hin und wieder süffisant – und amüsant zu lesende – Seitenhiebe auf die Fachkollegen aus, wenn er etwa im Kontext seiner „Marquise“-Deutung mit Blick auf die Novellentheorie bemerkt: „Ob die Lösung – der Falke ist der Schwan – Ornithologen überzeugen wird, ist allerdings fraglich. Diese Methode germanistischer Gattungsbestimmung taugt auch nichts, wenn man sie ontologisch versteht“– so stellt Michalzik hin und wieder überraschende Fragen wie: „Vielleicht wollte Friedrich II. mit der Bestrafung von Joachim Friedrich von Kleist“ – Kleists Vater wurde die ihm eigentlich zustehende Beförderung vorenthalten – „sogar den Herzog treffen“. Welche Bedeutung dieses für den Sohn gehabt haben könnte, bleibt aber genauso offen wie die buchstäblich spitze Frage im Kontext der Würzburger Reise: „Vielleicht hat Kleist viel onaniert, vielleicht dachte er daran, seine Ausbildung zu erweitern.“

Verständlicherweise hält sich der Journalist Michalzik bei der Beurteilung einzelner Werke meist zurück, scheut aber auch nicht in einzelnen Fällen die zugespitzte Formulierung, etwa, wenn er den „Prinzen von Homburg“ als „Kriegspropaganda“ bezeichnet: „Kleist sucht und findet einen neuen, in den zarten Gefühlen gegründeten Geist des Krieges. Das Ideal ist der traumgeborene, von der Sicherheit des Unbewussten geleitete Krieger.“ Insofern überrascht es auch nicht, dass für Michalzik die „Herrmannsschlacht“ „kein Fremdkörper in Kleists Werk“ ist. Im Gegenteil. „Die Herrmannsschlacht“ ist für den Biografen, der den Krieger Kleist konsequent stark macht, „das aktuellste Drama Kleists“, weil es ihm gelingt, die Zeitereignisse, das Leben Kleists genau einzufangen. „Er durchdachte den Zusammenhang der beiden Themen Widerstand und Terrorismus.“

Wirklich Neues hatte Michalzik im Vorwort versprochen und er hält Wort, wenn er sich seinen Coup auch bis zum Schluss aufhebt. Für ihn ist nämlich der Freitod am Wannsee die Nachstellung, sozusagen das in der Zeit damals übliche Stellen von „lebenden Bildern“, eines Bildes von Simon Vouet mit dem Titel „Sterbende heilige Magdalena“: „In Châlons sah Kleist im Tod die Seligkeit. Nun wollte er das rührende und erhebende Bild in Wirklichkeit wiederholen und es durch die Lage der Leichen den Engeln, so wie auf dem Bild, möglichst leicht machen, seine und Henriettes Seele zu empfangen. Kleist glaubte also, nach dem Tode weiterzuleben. Das ist der Sinn seiner letzten Inszenierung. Von daher ist auch die heitere Ausgelassenheit erklärbar, mit der er in den Tod ging.“ Auf die religiöse Dimension der sogenannten Todeslitanei hat im Übrigen zuletzt auch Hans Joachim Kreutzer in seiner biografischen Werkmonografie hingewiesen.

Ob die von Michalzik identifizierte ikonografische Eindeutigkeit tatsächlich so gegeben ist, ist vielleicht gar nicht so entscheidend. Für den „Gefühlsextremisten“ Kleist und seine heutigen Leser entscheidender ist vielmehr die Tatsache, dass die letzte Inszenierung, das Stellen eines lebenden Bildes im Tod final aufgegangen ist. Das Weiterleben in der Literatur jedenfalls ist gesichert. Nicht zuletzt auch Dank lesenswerter Biografien wie der vorliegenden von Peter Michalzik.

Titelbild

Peter Michalzik: Kleist. Dichter, Krieger, Seelensucher - Biographie.
Propyläen Verlag, Berlin 2011.
557 Seiten, 24,99 EUR.
ISBN-13: 9783549073247

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