Auf Kleists Spuren im Erinnerungsjahr 2011

Eine Reise nach Berlin und Frankfurt an der Oder

Von Barbara StieweRSS-Newsfeed neuer Artikel von Barbara Stiewe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ganz im Zeichen Kleists, des ruhelosen und krisengeschüttelten, zu Lebzeiten verkannten und als neurasthenisch abgestempelten Dichters, steht das Jahr 2011 – erinnert wird an den 200. Todestag am 21. November. Dieses Jubiläum gab und gibt den Anstoß für eine nachhaltige (literatur-)wissenschaftliche wie künstlerische Auseinandersetzung mit Leben und Wirken Heinrich von Kleists (18.10.1777 – 21.11.1811), eines ungeheuer kreativen, aber zugleich auch (mit seinen Texten und politischen Ansichten) extrem verstörenden Menschen, dem nach eigenem Bekunden „auf Erden nicht zu helfen war“ (Potsdam, 21.11.1811). Zweifelsohne bildet die große Doppelausstellung „Kleist: Experiment und Krise“ mit ihren beiden Standorten in Berlin, der preußischen Hauptstadt, die der reiselustige und umtriebige Adlige häufig aufsuchte und in der er 1810 schließlich für kurze Zeit „sesshaft“ wurde, sowie der Geburtsstadt Frankfurt an der Oder den Höhepunkt des Kleist-Gedenkens. Flankiert wird sie von einem breitgefächerten Rahmenprogramm, das unter anderem künstlerische Projekte („Kleist-WG“), Inszenierungen, Lesungen, Vorträge und Gespräche, eine Tagung der Heinrich-von-Kleist-Gesellschaft („Adel und Autorschaft“), zwei „Kleist-Semester“ an der Viadrina, eine Kleist-Woche im Berliner Brecht-Haus sowie literarische Stadtspaziergänge umfasst. Auch das schmucklose Kleist-Grab am Kleinen Wannsee soll rechtzeitig zum 21. November neu und würdig gestaltet werden.

Neugierig geworden, machten wir uns an einem verregneten Juli-Wochenende gen Nordosten auf, um einen Bruchteil des bunten, vielfältigen Angebots zum Kleist-Jahr genauer unter die Lupe zu nehmen, sprich: die große Doppelausstellung, die Kleist-WG und das Grab zu besuchen. Unser erstes Ziel: die selbsternannte Kleist-Stadt Frankfurt an der Oder, die von Berlin aus in gut einer Stunde bequem per Bahn zu erreichen ist. Auf dem Bahnhofsvorplatz des verschlafenen Oderstädtchens, das für sich mit dem Motto „Kleist ist hier zu Hause“ wirbt, wehten uns die charakteristischen hellblauen, mit jeweils einem prominenten Kleist-Zitat bedruckten Fahnen der Ausstellung entgegen, die übrigens im Museumsladen als Lesezeichen zum Andenken zu erwerben sind.

Angesichts fehlender Ausschilderung vermuteten wir, dass die Beflaggung den Besuchern den Weg zum Museum weisen würde; eine Fehlannahme, wie sich bald herausstellte, und ohne vorherige Ortskenntnis hätte uns die Auffindung des Museums unweit vom Marktplatz mit Rathaus und Marienkirche, in Richtung zur Oderpromenade, doch einige Mühen gekostet. Auch die wirklich sehenswerte „Kleist-WG“ in unmittelbarer Nähe zum Museum ist nur unzureichend ausgeschildert. Den einzigen Hinweis auf die Ausstellungsräume dieses vom Kleist-Museum unter Federführung der Museumspädagogin Christina Dalchau initiierten „Internationalen Jugendprojektes“ markierten die kleinen weißen Fähnchen mit schwarzer Kleist-Silhouette, die einige Fenster zur Hauptstraßenseite zierten.

Beheimatet ist es in einem sanierungsbedürftigen Verwaltungskomplex in der Großen Oderstraße, der in den 1950-er Jahren an der Stelle errichtet wurde, an der bis zur Zerstörung im April 1945 Kleists Geburtshaus stand. Passender konnte der Ort nicht gewählt werden: ein tristes, vernachlässigtes Gebäude als Erinnerungsort für einen scheuen und – zumindest im Vergleich mit anderen Schriftstellern und Gelehrten der Zeit um 1800 – wenig beachteten Dichter. Grundschüler, Schüler der Mittel- und Oberstufe, Abiturienten sowie Auszubildende und Studenten haben, wie es Wolfgang de Bruyn, der Direktor des Kleist-Museums, im das Projekt begleitenden Dokumentationsband treffend formuliert, „die ‚Kleist-WG‘ gegründet“, gut 20 Räume „besetzt und Tür an Tür ihr jeweils ganz eigenes Bild von Kleist entstehen lassen“. Besucher sind noch bis zum 30. November 2011 äußerst willkommen – dann wird die beeindruckende „Besetzung“ leider aufgehoben und die geplante Gebäudesanierung fortgeführt. Nach einer Beinahe-Umrundung des Gebäudes, quasi im hinterletzten Winkel entdeckten wir auf einer der vielen Haustüren das Projekt-Plakat mit der Silhouette Kleists; ein Klingelschild an der rechten Hauswand zeigte an, dass wir richtig waren. Wir drückten den Knopf, ein kurzes Surren, die Tür sprang auf und im Hochparterre war bereits eine große Flügeltür geöffnet, die den Blick freigab auf ein sich an der gegenüberliegenden Wand befindendes überdimensionales Gästebuch mit durchgehend lobenden Einträgen. Überaus freundlich begrüßt wurden wir von einem Mitarbeiter des Hauses, der uns während des Besuchs für Fragen und Erläuterungen zu den einzelnen Teilnehmern und ihren Raumgestaltungen/-installationen zu Verfügung stand.

Unseren Rundgang begannen wir in einem Raum, der mit „Mail-Art-Kleist“ überschrieben ist: Hier werden die kreativen Antwortkarten als Kunstwerk ausgestellt, die Schüler auf ihre eigenhändig gestalteten Kunstpostkarten erhalten haben. Die weiteren WG-Räume wurden von den „Mietern“ konzipiert. Was wir während unseres Besuchs sehen und erleben durften, beeindruckte uns nachhaltig: Von einer kreativen kindlich-spielerischen Auseinandersetzung mit Leben und Werk Kleists reichten die (Raum- und Inventar-)Gestaltungen bis hin zu Arbeiten, die an professionelle Bühnenbilder erinnerten. So bauten Viertklässler aus dem nahe gelegenen Grünheide (Mark) Kleist, von dem der Wunsch überliefert ist, „Ach, […] schenkte mir der Himmel ein grünes Haus“ (Berlin, 9.4.1801), eben dieses und beklebten es mit eigenen lebensnahen Wünschen wie: „Ach, schenkte mir der Himmel das Donald Duck Buch Nr. 201.“

Achtklässler des örtlichen Karl-Liebknecht-Gymnasiums näherten sich dem Dichter über dessen Aufforderung an die Geliebte, „in das Schiff meines Glückes [zu steigen] mit allen deinen Hoffnungen und Wünschen und Aussichten“ (Pasewalk, 20.8.1800), indem sie aus Schiffen, Wellen, Wolken und dem Wind der Fantasie eine Rauminstallation schufen. Die Teilnehmer des 12er- Kunstgrundkurses vom Frankfurter Carl-Friedrich-Gauß-Gymnasium wählten das Penthesilea-Zitat „Steh, stehe fest, wie das Gewölbe steht, / Weil seiner Blöcke jeder stürzen will!“ (V. 1349f.) zum Motto und bauten einen dem Würzburger Erlebnis nachempfundenen Torbogen, der den Eingang zu einem „Kleist-Dungeon“ bildete. Unter dem Motto „1×12=12. Zwölf Sichten auf Kleist“ modellierten Kunstleistungskursler aus Potsdam (Schule des Zweiten Bildungsweges) nach dem einzigen für authentisch erklärten Dichterbildnis Kleist-Köpfe, die dessen unterschiedliche Wesenszüge, Lebensstadien, aber auch Legenden über seine Person repräsentieren sollen – das Marbacher Lapidarium des Jahres 2008 „Das geheime Deutschland. Eine Ausgrabung. Köpfe aus dem George-Kreis“ lässt grüßen. Teilnehmer der Berufsvorbereitung des Internationalen Bundes in Frankfurt an der Oder betitelten ihren WG-Raum „27.799 km per PS“ und stellten neben traditionellen Utensilien eines mit der Kutsche Reisenden des 18. Jahrhunderts sowie einer Landkarte mit Reisestationen auch Abschriften von Kleists Reisebriefen aus.

Julia Kühn, Studentin der Fachrichtung Bildende Künste von der Universität der Künste in Berlin, ließ sich von Kleists Erzählung „Das Bettelweib von Locarno“ zu einer Rauminstallation anregen, die deren Gewalt, Zerstörung und Spuk in die moderne Zeit überträgt. Mit vielen Fotos und der Dokumentationsbroschüre versorgt, die zum Preis von 10 Euro in der WG zu erhalten ist, machten wir uns auf zum nahe gelegenen Kleist-Museum in der Faberstraße. Unser knurrender Magen veranlasste uns zu einem kleinen Umweg: Im Café am Markt stärkten wir uns mit „Heinrich-von-Kleist-Croissants“, deren Besonderheit die Espressocremefüllung war und auf diese Weise an Kleists hohen Kaffeekonsum vor seinem Suizid erinnert.

Das Kleist-Museum in unmittelbarer Nähe zur Oder-Promenade befindet sich seit 1969 in der ehemaligen Garnisonschule und kann auf eine fast 90-jährige Tradition der „Kleist-Pflege“ zurückblicken. Im nächsten Jahr soll der längst überfällige Anbau an das spätbarocke Haus fertiggestellt sein, der eine erweiterte Ausstellungsfläche ermöglicht.

Neben den fünf Räumen im Obergeschoss, die der Jubiläumsausstellung „Kleist: Krise und Experiment“ gewidmet sind, finden Besucher im Untergeschoss einen Ausstellungsraum vor, der über die wichtigsten Lebensstationen und -daten Kleists auf 14 bebilderten Dokumentationstafeln knapp informiert. Außerdem werden in zwei Vitrinen neben Porträts von Familienangehörigen und der Verlobten Wilhelmine von Zenge einige der wenigen erhalten Accessoires aus Kleists Besitz ausgestellt sowie eine Pistole des Modells, mit dem er sich umbrachte, und eine ihm (wohl fälschlich) zugeschriebene Totenmaske.

Es empfiehlt sich, den Rundgang durch das Haus in diesem Raum zu beginnen; gerade dem Nicht-Fachpublikum werden in prägnanter Form biografische und historische Fakten und Kontexte präsentiert, die zum Verständnis der thematisch-systematisch angelegten Ausstellungsräume im Obergeschoss, also dem Frankfurter Teil der „Krise-und-Experiment-Ausstellung“ hilfreich sind (vor allem auch, wenn – wie in unserem Fall – der Frankfurter Teil vor dem Berliner besucht wird).

Im Zentrum der großen Jubiläumsausstellung steht der „unzeitgemäße“ Mensch Kleist, der seinen Zeitgenossen, aber auch uns Heutigen aufgrund seiner melancholischen Weltsicht und seiner kühnen Lebens- und Werkexperimenten „fremd“ erscheint. Die Kuratoren der Ausstellung, der Kölner Germanistikprofessor Günter Blamberger und der Berliner Kulturmanager und Ausstellungsmacher Stefan Iglhaut, wollen die Besucher auf den in deutsch und englisch abgefassten Raumtafeln mit „Fragen“ konfrontieren, die – wie es Blamberger im Katalogband formuliert – „Kleists Beunruhigungs- und Faszinationswerte, seine Zündstoffe in jeder Lebens- und Werkphase zeigen“. Objekte, Texte und Bilder sollen helfen, „Kleists Denkfiguren [zu] konkretisieren“. Um das Irritationspotential zu verdeutlichen, wird dem Gezeigten häufig „eine ganz gegenwärtige Szenographie“ entgegengesetzt. In jedem Ausstellungsraum, der jeweils einen bestimmten Aspekt beleuchten möchte, findet sich ein Reader, der zum Thema ausgewählte Stellen aus Kleists Briefen in Gegenüberstellung von Fotoreproduktion und Transkription präsentiert. Zusätzlich wird dem Besucher die Möglichkeit geboten, über einen Audio-Guide Kleist-Worte aus Briefen und Werken anzuhören.

Obwohl jeweils Teil einer Gesamtausstellung „Kleist: Experiment und Krise“ sind die beiden Standorte in Frankfurt und Berlin als eigenständige, ansprechend gestaltete und informative Ausstellungen zu besuchen, die sich gut ergänzen, aber nicht unmittelbar aufeinander aufbauen und auch keine eindeutige Abgrenzung erkennen lassen. Der wesentlich kleinere Frankfurter Teil deckt die Bereiche bildliche Darstellung Kleists, sein familiäres und freundschaftliches Netzwerk, die prekäre Finanzlage und seinen hypotaktischen Schreibstil ab. Es fällt nicht ganz leicht, diese Aspekte als Einheit zu verstehen beziehungsweise unter den Titel der Gesamtausstellung zu fassen: Unmittelbar einleuchtend ist der Bezug lediglich hinsichtlich der ökonomischen Krise („Kleist und das Geld“) und des Schreibexperiments („Kleists Schreiben“).

In Berlin dagegen wird auf den drei weitläufigen Etagen des Ephraim-Palais das Motto der Ausstellung wörtlich(er) genommen und Kleist als Krisenphänomen und experimenteller Geist vorgeführt. In weitgehend chronologischer Folge werden seine Lebensbedingungen, die Entstehungsvoraussetzungen und Besonderheiten des Werkes in den Blick genommen und schlaglichtartig dessen öffentliche Wirkung gestreift. Dabei kommt den über das repräsentative Treppenhaus prominent zu erreichenden Mittelräumen, von denen jeweils zur rechten und linken Seite sich weitere Zimmer erstrecken, eine auch in thematischer Hinsicht hervorgehobene Funktion zu. Sie stellen zugleich den Ausgangs- und Endpunkt des Rundgangs auf der jeweiligen Etage dar, und sie konfrontieren den Besucher mit Situationen, die als Initialzündung für das in horizontaler Ebene Präsentierte gelten können oder – so auf der dritten Etage – den Endpunkt von (Lebens-)Krise und (Lebens-)Experiment darstellen.

Die vertikale Abfolge der Mittelräume ist als die sich zuspitzende Krisenerfahrung in Kleists Leben zu lesen. Medial eindrucksvoll wird der Besucher im ersten Ausstellungsraum von etwa zwei Dutzend in Reihen nebeneinander gruppierten großformatigen Porträts prominenter preußischer Kriegerhelden empfangen, im zweiten Obergeschoss erblickt er beim Eintreten eine riesige Collage aus überdimensionalen, ineinandermontierten Fotografien moderner Kriegsschauplätze, die die Schockwirkung des Jahres 1806 verdeutlichen soll, und im letzten Raum wird er von einer hohen Wand in Schauder versetzt, die von beiden Seiten mit fiktiven Todesanzeigen von modernen Schriftstellern bestückt ist, die Suizid begangen haben. Somit wird in der Ausstellung ein Bogen gespannt von Kleists Herkunft aus einer alten preußischen Adelsfamilie, deren Verdienste vorwiegend im Militärischen liegen und die dem Nachkommen die Bürde eines ebenso erfolgreichen Lebenslaufs auferlegte, bis hin zum tragischen Tod als Resultat der nicht erfüllten Ansprüche und des eigenen Lebenszweifels.

In horizontaler Ebene werden die Stationen von Kleists rastloser Suche nach Halt und Erfolg im Leben abgebildet, die nach dem Ausscheiden aus dem Heer zum Beispiel über physikalische Experimente, philosophische Studien und ausgedehnte Reisen zu ersten literarischen Versuchen in der idyllischen Schweiz führen. Die drängende Suche nach persönlicher Nähe wird über die Beziehung zur Schwester, die Brautbriefe an Wilhelmine von Zenge und die (Männer-)Freundschaft zu Ernst von Pfuel dargestellt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet Kleists Existenz in Preußen – das Bestreben, sich, wenn nicht im Militär, dann im Beamtenapparat nützlich zu machen oder als letzter Versuch, Kulturpolitik in Berlin zu betreiben. Last but not least wird Kleists Werk und die darin erfolgende Auseinandersetzung mit der wahrgenommenen ‚Gebrechlichkeit der Welt‘ beleuchtet sowie sein problematisches Verhältnis zu Johann Wolfgang Goethe, auf dessen Wertschätzung er vergeblich hoffte.

Etwas zu kurz behandelt wird in der Ausstellung die öffentliche Wirkung und Rezeption von Kleist und seinem Werk. Diese wird lediglich am Beispiel der zum klassischen Schultext avancierten Erzählung „Michael Kohlhaas“ behandelt und das dort diskutierte Recht auf Selbstjustiz auf die politische Linke in der Bundesrepublik in den 1970er-Jahren projiziert. Vermisst wird hingegen eine Auseinandersetzung mit der nationalistischen Vereinnahmung Kleists bis hin zur Apostrophierung als mustergültiger Repräsentant einer „stählernen Romantik“ im Nationalsozialismus. Dies verwundert um so mehr, als durch zwei vom Kleist-Museum in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Naumann-Stiftung konzipierte Ausstellungen im Jahr 2008 in Frankfurt an der Oder und im Schloss Neuhardenberg bereits Vorarbeiten geleistet wurden, auf die man leicht hätte zurückgreifen können. Diese sehenswerten Ausstellungen, die den Titel tragen „‚Was für ein Kerl!‘ – Heinrich von Kleist im ‚Dritten Reich‘“, sind übrigens noch bis zum 16.10.2011 im Truman-Haus in Potsdam-Babelsberg zu sehen.

Zu der großen Jubiläumsausstellung „Kleist: Krise und Experiment“ ist im Kerber-Verlag ein voluminöser Aufsatz- und Dokumentationsband erschienen, der in der Ausstellung für rund die Hälfte des Verlagspreises zu erhalten ist und dessen Lektüre den lohnenden Besuch abrundet. In ihm kommen neben den beiden Kuratoren prominente Kleist-Forscher zu Wort.

Im Anschluss an den Berliner Ausstellungsbesuch pilgerten wir schließlich noch zum Dichtergrab in der Bismarckstraße 2 am Ufer des Kleinen Wannsees – als letzter Station unseres Berliner Kleist-Wochenendes. Im „Tagesspiegel“ hatten wir am Morgen gelesen, dass die Restaurierungsarbeiten dort begonnen hätten. Bis zum 21. November sollen dank einer großzügigen Spende der Grabstein aufgearbeitet und neu beschriftet, die Einfassung des Grabes erneuert und der Zugang barrierefrei gestaltet werden. Auch ist ein Audio-Guide geplant, der Besuchern auf dem 10-minütigen Fußweg vom S-Bahnhof zum Grab „die Landschaft“ – es fragt sich nur, welche – „im Zusammenhang mit der Geschichte von Kleist und Henriette Vogel“ erläutert. Wichtiger wäre es unseres Erachtens, etwas Geld in eine bessere Beschilderung zu investieren. Die winzigen Wegweiser, die nur ungenaue Richtungsvorgaben enthalten, übersieht man leicht. Zudem liefert den entscheidenden Hinweis, die viel befahrene Chaussee zu verlassen und in die von Villen gesäumte Bismarckstraße einzubiegen, eine vom Zahn der Zeit angenagte Metallplatte, die wenig prominent an einer alten Eisenbahnbrücke angebracht ist und zudem noch wenig künstlerisch in ein Graffiti integriert wurde.

Nachdem wir auch diese Hürde genommen hatten, empfing uns nach etwa hundert Schritten am Straßenrand eine große Tafel des Planungsbüros, die über das genaue Restaurierungsvorhaben informiert. Dass die Umgestaltungsarbeiten von Gelände und Grab bereits begonnen haben sollten, konnten wir nicht erkennen: Seit unserem letzten Besuch vor gut drei Jahren hatte sich noch nicht viel getan, absehen davon, dass an der der Straße zugewandten Seite des verwilderten Ufergrundstückes einige Bäume gerodet worden waren. Noch immer liegt die Stätte, bestehend aus einem aufrecht stehenden größeren Stein für Kleist, der als Aufschrift die Zeile „Nun, o Unsterblichkeit, bist Du ganz mein.“ aus dem „Prinzen von Homburg“ (V. 1830) trägt, und einer links davon liegenden kleineren Platte für Henriette Vogel (1780–1811), versteckt im Schatten einer kräftigen Eiche und ist über einen kleinen Pfad uferabwärts zu erreichen, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts angelegt wurde. Nur mühsam ahnt man den idyllischen Charme, den dieser Ort der Stille einstmals gehabt haben muss.  Bereits Fontane beklagte in seinen „Wanderungen“ die bildungsfernen lärmenden Pilgerscharen, die zuhauf zum Dichtergrab strömten und die Aura der Stätte beeinträchtigten. Über einen Massentourismus lässt sich heute nicht mehr klagen. Jetzt wird die Pietät des Ortes eher ein wenig dadurch gestört, dass er nur unzureichend abgeschirmt ist von einem an das Grundstück angrenzenden Ruderclub. Auch daraus wird ersichtlich, dass Kleist lange Zeit in Vergessenheit geraten war und erst langsam wieder in den Fokus des öffentlichen Interesses rückt – eine ebenso vernachlässigte Ruhestätte für die Klassiker Johann Wolfgang Goethe und Friedrich Schiller lässt sich nur schwer vorstellen. Wie sich die Lage am Kleist-Grab – und die Erinnerung an den Dichter überhaupt – entwickeln wird, bleibt spannend zu beobachten.

Literaturhinweis: Die Kleist-WG. Internationales Jugendprojekt des Kleist-Museums, Frankfurt (Oder). Stand der Dinge. Sommer 2010. Kleist-Museum, Frankfurt, O. 2010. Ohne Seitenzählung,
10 EUR – keine ISBN

Titelbild

Günter Blamberger / Stefan Iglhaut (Hg.): Kleist: Krise und Experiment. Die Doppelausstellung im Kleist-Jahr 2011. Berlin und Frankfurt (Oder).
Kerber Verlag, Bielefeld 2011.
432 Seiten, 39,95 EUR.
ISBN-13: 9783866785007

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