Von Gemüse und Selbstmord in Brusttaschen

Nagelprobe 16 - Texte des Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen

Von Linda StieffenhoferRSS-Newsfeed neuer Artikel von Linda Stieffenhofer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Freitag vormittag 9 Uhr - braune Wand - komischer Blick" so beginnt ein Gedicht von Ingrid Würth und ist zugleich Auftakt zur "Nagelprobe 16", der Anthologie der Wettbewerbstexte des 16. Jungen Literaturforums Hessen-Thüringen 1999.

Dieser Beginn ist bezeichnend für eine Strömung innerhalb der Prosa und Lyrik, wie sie derzeit von ganz jungen Autoren und Autorinnen verfasst wird, und er wehrt zugleich den Vorwurf an diese Generation ab, abgestumpft und schnelllebig zu sein. Diese Strömung könnte Momentaufnahme oder wache Wahrnehmung heißen, genaue Beobachtung und entsprechende Wiedergabe.

Die meisten Texte sind jedoch kaum auf einen Nenner zu bringen - vielmehr kennzeichnet Vielseitigkeit dieTexte.

Beim "Angriff der Minis" geht es schlicht und einfach um den Kampf gegen die Fünftklässler, während lustige, fantastische Geschichten im wahrsten Sinne des Wortes im Absurden ihren Sinn finden: "Hinter Omas Sofa" liegt Oma selbst, gefesselt und aufgestöbert von Enkel Stefan, der glaubt, seine Großmutter, die ihn versorgt, sei vertauscht worden. Schließlich kriecht er unter das Bett und entdeckt sich selbst. "Erbsen- und Möhrengemüse" quillt aus allen Bildern, Mündern, Radios, seit der Sohnemann sich weigert, es zu essen.

Zum Absurden tendieren auch "gutenachtgeschichte" und das "Filzlaus-Liebessspiel". Thema ist hier das Schäfchenzählen und das Filzlausbegatten im lustigen Reim.

Selbstverständlich gibt es auch Versuche, hohe oder klassische Kunst -besonders im Bereich der Lyrik - zu schaffen.

In Susanne Einzmanns Epigramm "In meiner Brusttasche" ist das gelungen: dort "lagert / sorgfältig in Transparentpapier eingeschlagen / eine Handvoll Selbstmord. / So lebt es sich leichter." Auch die Architektur der Seele in Thomas Lux´ Prosagedicht "Mein Zimmer ist ein kleiner Raum" wird - nicht ungeschickt - als Sozialkunst entworfen.

Gestelzte Wortwahl, metaphernschwangere oder fremdwortüberladene Formulierungen wirken bisweilen etwas vermessen. "Die Ruinen von Olympia" und Christian Filips´ Gedicht "Nach dem Regen" zeugen davon: "Schiefer Überrest wärmt das Falsett der Lemuren... Duftende Lügen, die Ausreden fuhren durch alle Sträucher, wissen nicht von Statue, Fleisch und dunkler Sicht".

Bemerkenswert sind die "Briefe an Em", die mit Ems Suizid enden. Die totgesagte Gesellschaftskritik ist - wenn auch latent - durchaus vorhanden. "Ohne Worte" ist der Titel eines langen Textes, der die Gedanken und Nöte und die Gesellschaft der heute Studierenden formuliert. Der Spieler des "Deutschlandliedes" von Herdis Hagen will einfach "nur gehorchen", und die beiden Texte "Von Musik und Kondomen" und "Film Skills" haben die Skurrilität der Medien zum Thema. "Der Penner" gibt uns Einblick in seine Gedankenwelt, und in "Rot wie Schnee" stirbt ein Obdachloser, der sich anschließend als Weihnachtsmann entpuppt, worauf die ganze Welt untergeht. Auffallend ist auch die Behandlung sexueller Gewalt. Allein zwei Preisträgerinnen, Sandra Turner und Julia Heupel, haben sie thematisiert.

Das ewige und unvermeidliche Thema der wahren Liebe bemäntelt sich mit Prosa- und Lyrikstücken wie "Solo in Moll", "Die Karten werden neu gemischt", "Ballade um Peter" und meinem persönlichen Favoriten: "dunkel im licht".

Fazit: Die "Nagelprobe 16" bietet eine schlüssige, vielfältige Zusammenstellung interessanter Prosa und Lyrik, heutiger Nachwuchsautoren.

Titelbild

Nagelprobe 16. Texte des jungen Literaturforums Hessen-Thüringen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1999.
147 Seiten, 6,10 EUR.
ISBN-10: 3518410962

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