Toxische Nebeneffekte der Aufklärung

Stefani Engelstein und Carl Niekerk versammeln Aufsätze über Gewalt in der deutschen Kulturgeschichte

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gewalt stellt einen allgegenwärtigen Gegenstand medialer Berichterstattung dar. Die aktuellen Anlässe im Sommer 2011 reichen etwa von den Plünderungen in britischen Großstädten über Selbstmordattentate in Afghanistan bis hin zur brutalen Unterdrückung der syrischen Bevölkerung durch das Regime Baschar al-Assads. Zahlreiche weitere Manifestationen von Gewalt könnten aufgezählt werden, denen in ihrer massenmedialen Aufbereitung unterschiedliche Zuschreibungen zukommen. Weil Gewalt also einen dauerhaft präsenten Teil der modernen globalisierten Welt und ihrer Diskurse ausmacht, vermag das Erscheinen eines Sammelbandes mit Aufsätzen von US-amerikanischen Literaturwissenschaftler/inne/n zu Gewalt im Feld der German Studies unmittelbar einzuleuchten. Ebenso evident erscheint auch, dass Gewalt immer in ihren jeweiligen Kontexten zu analysieren ist. Welche Art von Kontext aber stellt die deutsche Kulturgeschichte seit der Aufklärung dar? Auf dem Hintergrund der Allgegenwärtigkeit von Gewalt und dieser besonderen Perspektive stellen sich Fragen nach dem methodischem Gerüst des vorliegenden Sammelbands und seiner präzien Fokussierung des Problems. Diesen begegnen die Herausgeber/innen mit einem ausführlichen Vorwort.

Der Band beruht auf einer Tagung, die unter dem Titel „Violence in German Literature, Culture, and Intellectual History, 1789-1938“ bereits im Oktober 2005 an der University of Illinois in Urbana-Champaign stattfand. Aus dem ursprünglichen Titel ist noch die Bedeutung des ideengeschichtlichen Zugriffs ersichtlich, der in dem aktuellen Titel nicht mehr eigens erscheint. In ihrer Einleitung betonen Stefani Engelstein und Carl Niekerk die Notwendigkeit gleichzeitig zu erforschen, wie Individuen ihre lokalen Geschichten ebenso wie ihre kulturellen Zugehörigkeiten konstruieren beziehungsweise erinnern, innerhalb derer Momente von Gewalt erscheinen. Bedeutend sei, wie letztere sich mit Identitätsbildungsprozessen verbinden. Mit der Betonung kultureller Zugehörigkeit begründen Engelstein und Niekerk ihre Beschränkung auf das Feld der deutschen kulturellen Traditionen, die sich vermutlich aber vor allem der disziplinären Zugehörigkeit der Beiträger/innen verdankt.

Zeitlich wird die Anthologie von zwei zentralen, gleichwohl radikal unterschiedlichen Ereignissen extremer Gewalt begrenzt: der Französischen Revolution und dem Holocaust, dem der Zweite Weltkrieg an die Seite gestellt ist. Beide Ereignisse stehen allerdings außerhalb der im Band versammelten Einzeluntersuchungen, wobei die Folgen der Französischen Revolution sehr wohl in die Gegenstände der Studien eingegangen sind. Zwei Ziele sollen innerhalb dieses zeitlichen Rahmens verfolgt werden: „to elucidate trends in theories of violence leading up to one of the most horrifying genocidal outbreaks in history“ sowie zweitens „to provide a glimpse of the stakes involved in ongoing discussions of the legitimate uses of violence, and of state, individual, and collective agency in its perpetration.“

Beide Punkte legen einen engen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Gewalt und ihren Theorien sowie insbesondere solchen Diskussionen nahe, in denen über „gerechte“ Gewalt reflektiert wird, wie etwa in Walter Benjamins kanonischem Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ (1921). Benjamins Aufsatz kommt in dem Band gewissermaßen der Status eines Referenztextes zu, auf den sich mehrere der Beiträger/innen beziehen. Die jüngere Geschichte habe gezeigt, dass textuelle Gewalt mit Praktiken der Gewalt so verschränkt sei, dass sie auf die Grenzen und Beschränkungen der Theoriebildung selbst verweise. „Gewalt“ sei im Grenzbereich zwischem dem Diskursiven und den Nicht-Diskursiven angesiedelt.

Mit einer quantitativen These wird die Beschränkung auf die deutschen kulturellen Traditionen als Feld der Untersuchung zusätzlich gerechtfertigt: So sei unter den europäischen Denkern, die sich mit Erscheinungsformen von Gruppenidentitäten befasst hätten, eine überdurchschnittlich große Anzahl an Deutschen zu finden. Namentlich und pars pro toto herausgehoben werden dann der Philosoph Immanuel Kant, der Militärtheoretiker Carl von Clausewitz sowie Karl Marx, Sigmund Freud, Max Weber, Walter Benjamin und Carl Schmitt. Insgesamt erhebt der Sammelband den Anspruch, tatsächlich eine Entwicklungsgeschichte der Theoretisierungsversuche von Gewalt innerhalb der deutschen Traditionen seit der Aufklärung nachzuzeichnen, die schließlich zum Holocaust geführt habe. Während Kants Überlegungen zur Gewalt in seiner Schrift „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ (1795) noch als von dem hochgradig modernen Bedürfnis motiviert verstanden werden könnten, das Problem der Gewalt rational lösen zu wollen, sei Benjamins Essay im Gegensatz dazu ein Ausdruck der modernen Enttäuschung über die Unfähigkeit Gewalt regulieren zu können: „As such it is not only representative for the early twentieth century, but also illuminating for what has come since.“ Da klingt Jacques Derridas Lektüre von Benjamins Aufsatz an, der vor allem zwischen Benjamins Konstrukt einer „reinen Gewalt“ und dem Holocaust eine verstörende Korrespondenz wahrnahm.

Verständlicherweise kann der Band den Nachweis einer sich zuspitzenden Komplizenschaft deutscher kultureller Traditionen seit der Französischen Revolution, die zum Nationalsozialismus und dessen Verbrechen führt, nicht erbringen. Das ist aber kein Nachteil. Dagegen besitzt der Band seine Stärken in den zwölf allesamt gelungenen Einzelbeiträgen zu verschiedenen Darstellungen und Reflexionen des Gewaltproblems, die mit je unterschiedlichen theoretischen und methodischen Konzepten vielerlei Aufschlüsse ermöglichen. Die Mehrzahl der Texte sind Analysen literarischer Werke. Zeitlich setzen sie bei der Frage nach einer von der Französischen Revolution veränderten Körperpolitik in Therese Hubers „Die Familie Seldorf“ (1796) an (Stephanie M. Hilger), untersuchen Ludwig Tiecks „William Lovell“ (1795-96) vor dem Hintergrund der zeitgenössischen psychologischen Konzepte „Enthusiasmus“ und „Melancholie“ (Laurie Johnson), fragen in Kleists Schriften nach gewaltsamer Ideologie im Zusammenhang verkörperter Vaterschaftsdarstellungen (Stefani Engelstein), verstehen Heine als Aufklärer institutioneller Gewalt (Jeffrey Grossman), deuten Wilhelm Raabes „Zum Wilden Mann“ (1874) als einen pessimistischen und von Gewalt geprägten Gegenentwurf zur Selbstglorifizierung der deutschen Einheit von 1871 (Lynne Tatlock), rekonstruieren die ästhetische Bedeutung von „blackness“ in Kafkas „Der Verschollene“ (Mark Christian Thompson) oder analysieren etwa die literarische Konstruktion in Ödön von Horvaths „Jugend ohne Gott“ (1937) vor dem Hintergrund von Gewalt, Gender und Sexualität (Carl Niekerk).

Ein kleinerer Teil der Arbeiten widmet sich anderen kulturen Darstellungen. So entwickelt zum Beispiel Claudia Breger in ihrem ausgezeichneten Beitrag zu Joe Mays Stummfilm „Das Indische Grabmal“ (1921) anhand von Theorien der Performativität, Benjamins „Zur Kritik der Gewalt“ sowie filmgeschichtlichen und -theoretischen Studien einen eigenen Ansatz der Filmanalyse, den sie „narrative performance“ nennt. In ihrer Analyse stellt sie die Verschränkung eines orientalistischen Diskurses im Film mit Gegenbewegungen heraus, die verschiedene Formen „europäischer“ Begierden (desires) nach charismatischen Tyrannen und bedingungsloser Unterwerfung untersuchen. In der Nachfolge von Benjamin und Derrida sieht sie die im Film dargestellten Formen von Gewalt als Performanz von Gewalt dekonstruiert: „Through the ways in which the spectacle of the despot is contextualized in the film, the film’s Orientalist stage becomes a stage for a modern critique of authority in general.“

Ähnlich erhellend ist Patrizia McBrides Aufsatz zum innotiven Diskurs über Montagetechniken in der Kultur der Weimarer Republik, den sie ausgehend von zwei Erzählungen Kurt Schwitters aus den Jahren 1919-20 untersucht. In dem Protagonisten mit dem sprechenden Namen Bäsenstiel aus Schwitters Text „Die Zwiebel“, der aus seinen Körperteilen in einem Schlachthaus neu zusammengesetzt wird, erkennt sie eine Parodie auf die im Expressionismus weit verbreitete Metapher vom Neuen Menschen. McBride betont am Beispiel von Schwitters Erzählungen die besondere Qualität von Montagetechniken in der Kunst, etwas zu präsentieren, das zuvor weder gesehen noch erfahren werden konnte; etwas, das die Wirkungen sichtbar macht, die von den Diskursen über die Umgestaltung von Subjektivität in der Moderne hervorgebracht werden.

Auch für die anderen Aufsätze des Bandes gilt, dass sie die verschiedenen hoch- und populärkulturellen Darstellungen, theoretischen Quellentexte oder im Falle des Beitrags von Peter M. McIsaac, die Programmatik des Wiener Heeresgeschichtlichen Museums, als mehrfach kodierten Ausdruck ebenso wie als Reflexion bestimmter historischer Konstellationen diskutieren. Die Texte der europäischen Aufklärung und die mit ihr verbundene Französische Revolution bilden als aufeinanderbezogene Konstellation von Reflexion und Revolution aus guten Gründen den Ausgangspunkt des Bandes. Der diskutiert in partiellem Gegensatz zur etwas zu glatten Engführung von Ideen- und Ereignisgeschichte in der Einleitung in immer neuen Analysen „the toxic side effect of the Enlightenment’s rationalist project“ (Terry Castle) oder, anders formuliert, die kulturelle Erfindung des Unheimlichen seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert und dessen weitere Transformationen. Damit werden die kulturellen Produkte in der Moderne als zutiefst ambivalente und komplexe diskursive Formationen deutbar, die der nachträglichen Analyse Aufschlüsse gestatten über vorausgegangene Macht- und Gewaltverhältnisse.

Titelbild

Carl Niekerk / Stefani Engelstein (Hg.): Contemplating Violence. Critical Studies in Modern German Culture.
Rodopi Verlag, Amsterdam 2011.
296 Seiten, 59,00 EUR.
ISBN-13: 9789042032941

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch