Standardabweichungen oder: „Liebes Dr. Sommer Team, bin ich eigentlich normal?“

Der Sammelband „Fragen Sie Dr. Sex!“ untersucht die Konstruktionen des Sexuellen in Beratungsdiskursen

Von Jan-Paul KlünderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Paul Klünder

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Liebe Marta, Ich bin 37. und habe ein ändliches problem ich getraue mich nur zu den Frauen des Horizontalen Gewerbe und zu Frauen, die ihmer aleine gelasen one Liebe […] darum Möchte ich deinen Rat.“

Mit diesem Zitat auf dem Klappentext wirbt der Suhrkamp Verlag für den Sammelband „Fragen Sie Dr. Sex!“. Bei der „Lieben Marta“ handelt es sich in gewisser Weise um das Schweizer Äquivalent des in Deutschland populären „Dr. Sommer Teams“ der Jugendzeitschrift BRAVO – nur, wie sich noch zeigen wird, offenherziger und mit nicht ganz so jugendlicher Zielgruppe.

Die 376 Seiten starke Aufsatzsammlung behandelt den bislang (sozial-)wissenschaftlich unterbelichteten Bereich der Ratgeber-Literatur beziehungsweise Medien, wobei die Analyse – wie der Name des sich mitverantwortlich zeichnenden Philipp Sarasin bereits vermuten lässt – dieses Gegenstandes häufig mit Rückgriff auf die Theorie Michel Foucaults erfolgt. Doch ebenfalls unter Hinzuziehung von Niklas Luhmanns Systemtheorie oder modernisierungstheoretischer Konzepte (Anthony Giddens, Ulrich Beck und anderer) verhandeln die Autorinnen und Autoren Beratungsangebote. Dabei liegt das Hauptaugenmerk der versammelten Autorenschaft auf den Wechselbeziehungen zwischen populären Medien, Formen kommunikativer Beratung und der diskursiven Konstruktion von „normaler“ Sexualität. Die zwölf Beiträge gliedern sich in zwei Hauptteile und thematisieren unterschiedliche Formen und Facetten des Rat Gebens, Suchens und Erhaltens, wobei es – entgegen des süffisanten Titels – gar nicht immer primär um Sex geht. So überrascht etwa das von Heinz Bonfadelli vorgestellte Forschungsergebnis, dass in deutschen Talk Shows verhältnismäßig selten über Fragestellungen zum Thema Sex gesprochen wird beziehungsweise wurde. Die Motive der Zuschauenden, hier decken sich die Ergebnisse mit denen der neueren Rezeptionsforschung, oszillieren dabei zwischen purem Eskapismus durch Infotainment und, allerdings seltener, der ernsthaften Suche nach Role-Models für das eigene Leben. Dass die lebenspraktischen Hinweise, die die „Liebe Marta“ dabei für ihre Kundschaft bereit hielt, angesichts der äußeren Gegebenheiten (eine populäre Fernsehzeitschrift in den 1980er- und 1990er-Jahren) bis auf wenige Ausnahmen (sadistische Praktiken schienen der „Lieben Marta“ selbst im Rahmen von konsensuell ausgeübtem SM-Sex keine Option) außerordentlich fortschrittlich waren, ist dabei eine weitere Überraschungen des Bandes.

Grundsätzlich werden im ersten Teil des Buches mit Titel „Lesen, schreiben, zeigen“ vor allem die Geschichte verschiedener Ratgebermedien, deren unterschiedliche Medialitäten sowie die Genealogie des Rates analysiert. Die historische Dimension des Doktor Sommer-Teams und die Wandelbarkeit der sexualmoralischen Implikationen je nach dahinter stehenden realen Beratungsperson wird dabei ebenso thematisiert wie die intertextuellen Bezüge, die Ratsuchende zu ältern Anfragen ziehen.

Darüber hinaus ist es aber ebenfalls die Geschichte des Rates selbst, die in den Blick gerät (Alfred Messerli und Rudolf Helmstetter). Ob die Konstruktion eines als ideal bezeichneten „Beziehungssex“ durch die „Liebe Marta“ (Annika Wellmann) oder die schon erwähnte Verortung von (Daily-)Talkshows im Ratgeber-Kosmos zwischen Sensationsgier und Orientierung durch die jeweiligen Rezipierenden (Heinz Bonfadelli), auffallend ist die im ganzen Buch präsente Anlehnung an Normalisierungs- und Normierungskritische Theorien wie jene von Jürgen Link, Judith Butler oder eben Michel Foucault. Fast alle der versammelten Aufsätze setzen sich kritisch mit der Hervorbringung normierender Kategorien, primär im Bereich der Sexualität, auseinander und untersuchen aus dieser Beobachtungsperspektive die jeweiligen Beratungsmedien. Während die „Liebe Marta“ beispielsweise dabei von Beginn an zwar am klassischen Ideal des Beziehungssex festhielt, riet sie darüber hinaus nach der Prämisse der consenting adults durchaus zu vermeintlich Progressivem und zu allem, was Spaß macht oder für das persönliche Wohlbefinden als notwendig betrachtet wurde. Dennoch steht somit auch sie, wie verschiedene Beiträge herausarbeiten in der Tradition der normierenden Hervorbringung des Sexes.

Doch nicht nur im Sinne von Foucault, sondern ebenso in Erweiterung dessen theoretischer und diskursanalytischen Konzepte legen die Autoren und Autorinnen dar, wo seine Ansätze fruchtbar, aber ausbaufähig scheinen. Eindeutige Foucault Kritik übt dabei Philipp Sarasin, der zwar grundsätzlich seine Übereinstimmung mit Foucaults Konzeption bekräftigt, aber eindeutig dessen blinde Flecken in der Analyse des Tagebuchs des Hermaphroditen / der Hermaphroditin Herculine Barbin darlegt. Foucault hatte, so Sarasin, bei aller erfolgreichen Dekonstruktion der Zweigeschlechtlichkeit am Beispiel Barbins schlicht übersehen (wollen), dass sie / er außerhalb der symbolischen Geschlechterbinarität keinerlei Platz zur Verortung seiner / ihrer Identität fand.

Ein wenig umständlich – wie sie selbst zu Beginn des Artikels deutlich betont – erweitert Sabine Maasen den Foucault’schen Gouvernementalitätsbegriff. Obwohl sich dieser seiner gängigen Definition nach nicht ohne Weiteres auf die vergleichsweise wenig machtvollen und kurzen kommunikativen Beratungskontexte einer Ratgeberkolumne übertragen lässt, macht Maasen deutlich, dass es sich im Rahmen von Beratungssituationen durchaus um komplexe Techniken der Selbstregulierung im Dienste des Optimierungsimperativs handelt. In diesem Sinne schlägt sie schließlich die Einbeziehung von Jürgen Links Konzept des flexiblen Normalismus vor, um der Integration von „Standardabweichungen“ in die Praxen der Regierung des Selbst Rechnung zu tragen.

Eine Abwechslung zu diesen primär von Foucault inspirierten Untersuchungen bietet der Essay von Peter Fuchs, der sich aus systemtheoretischer Perspektive mit dem Auseinandertreten von Sex und Liebe in der Moderne beschäftigt. Ausgangspunkt dieser Abhandlung ist die Irritation über einen prosperierenden Beratungsmarkt zur Optimierung von Sex, wohingegen das ungleich viel unwahrscheinlichere Gelingen von Liebe geradezu stiefmütterlich behandelt wird. Den Grund für diese Entkoppelung und die darauffolgende Fokussierung der Beratungsindustrie aufs Sexuelle sieht diese gesellschaftstheoretische Beobachtung darin, dass Sex als körperliches Handeln wesentlich leichter kommunikativ adressierbar und damit vermeintlich optimierbar ist, wohin gegen sich die Liebe in Intimbeziehungen der Sichtbarkeit entzieht. Intimbeziehungen lassen sich zwar, so Fuchs, von Dritten beobachten, allerdings nie in der Form, wie sich die Liebenden selbst beobachten. Am Ende der spannenden Analyse von Peter Fuchs steht dann die alte Einsicht: Liebe lässt sich weder steuern, noch planen, geschweige denn beraten.

Besonders hervorstechend an dem hier besprochenen Sammelband ist die aufrichtige Seriosität, mit der die thematisierten Ratgeber behandelt werden, selbst wenn den entsprechenden Medien in einigen Fällen nur ein ‚Restwert‘ tatsächlicher Beratung zugesprochen wird. Obwohl den Beratenden oftmals normierende (jedoch selten moralisierende!) Sprechpraxen attestieren werden, verfallen Bänziger et al. an keiner Stelle einem aufklärerischen oder gar anklagenden Gestus. Weder begeben sie sich auf die (erfolglose) Suche nach „wertfreien“ oder „außerdiskursiven“ Möglichkeiten der Beratung, distanzieren sich epistemologisch vielmehr davon (Sarasin), noch tendieren sie dazu, die teilweise etwas unbeholfenen Hilferufe und Ratgesuche als profan oder ähnlich zu diskreditieren. Damit unterscheidet sich die Aufsatzsammlung deutlich von einer Reihe anderer (wichtiger) Werke, die sich mit Sex und dessen Normierung oder Medialisierung auseinander setzen (genannt sei hier beispielhaft der streckenweise moralisierende, ebenfalls mit Foucault arbeitende, Band „Porno-Pop II“ unter Herausgeberschaft von Jörg Metelmann).

Die Kehrseite dieser Medaille zeigt sich hingegen in der relativen Uniformierung des Bandes: so divers die einzelnen Themen akzentuiert sind, bleibt doch merklich spürbar, dass ein nicht geringer Teil der Autorenschaft bereits in einem gemeinsamen Forschungs-Projekt zu Ratgeberkommunikation gearbeitet hat (Bänziger, Duttweiler, Sarasin, Schwitter und Wellmann) oder nach wie vor an derselben Universität tätig ist (Bonfadelli, Duttweiler, Messerli, Sarasin und Schwitter). Radikale theoretische oder empirische Blickwechsel bietet Dr. Sex also nicht und ist damit vor allem solchen Leserinnen und Lesern zu empfehlen, deren Interesse im Bereich der post-strukturalistischen oder diskurstheoretischen Analysen liegt. Neben der unter dieser Prämisse aber außerordentlich unterhaltsam-erfrischenden und lehrreichen Lektüre des Buches, ist es vor allem die eingestreute und gut durchdachte Kritik und Relokalisierung Foucault’scher Theoreme in aktuellen Diskursen, die den Band so lesenswert macht. Foucault wollte selbst nicht als Autor erkannt werden, dennoch lässt sich der Theoretiker Foucault – so Sarasin – aus heutiger Perspektive selbst einer „spezifischen Phase der Geschichte der Sexualität“ und wissenschaftlichen Reflexion zuordnen und somit retrospektiv dekonstruieren.

Titelbild

Stefanie Duttweiler / Philipp Sarasin / Annika Wellmann (Hg.): Fragen Sie Dr. Sex! Ratgeberkommunikation und die mediale Konstruktion des Sexuellen.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
376 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783518125953

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch