Bildlinguistik als Zukunftsprojekt

Hajo Diekmannshenke und andere skizzieren die Umrisse einer neuen Teildisziplin

Von Hans-Joachim HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Hans-Joachim Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Schon 1992 konstatierte J. T. Mitchell einen „pictorial turn“, mit dem ein neues Nachdenken über Bilder sowie auch ein Denken in Bildern vorangetrieben werden sollte. Das weitgehend für die Wissenschaften akzeptierte Primat der Sprache vor bildlichen Darstellungsweisen wurde und wird damit nachhaltig in Frage gestellt. Doris Bachmann-Medick etwa verweist auf Mitchell in ihrem einschlägigen Überblick über aktuelle Tendenzen in den Kulturwissenschaften, wo sie diese neuen Orientierungen an Bildern unter dem Titel „iconic turn“ zusammenfasst [Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, 2006]. Neben der „klassischen“ Bilddisziplin Kunstgeschichte sind während dieser letzten Jahrzehnte weitere Bildwissenschaften entstanden, die der neuen Aufmerksamkeit Rechnung tragen, sie aber auch aus jeweils unterschiedlicher Perspektive betrachten. So bezeichnen die „Visual Studies“ beispielsweise nicht dasselbe wie die Bildwissenschaften, weil sie sich zum Teil auf unterschiedliche wissenschaftliche Traditionen beziehen. Im Feld dieser voranschreitenden Ausdifferenzierung liegt nun auch ein interessanter Versuch ausgerechnet aus der Disziplin vor, die namengebend für die „linguistic turn“ vor etwa einem halben Jahrhundert stand: die Linguistik. Dafür lassen sich überzeugende Gründe geltend machen, wie der hier anzuzeigende Sammelband von Hajo Diekmannshenke, Michael Klemm und Hartmut Stöckl zu „Bildlinguistik“ beweist.

Vor allem drei Argumente führen die Herausgeber in ihrer Einleitung an: 1. Die Rede von „dem“ Bild übersehe zu häufig „die Typisiertheit von Bildern und deren Vielfalt von Formen und Funktionen im sozialen Kontext“. Zu einer genaueren Erforschung konkreter Bildtypen sowie der Analyse ihrer kommunikativen Verwendung in spezifischen Situationen und „Gebrauchsdomänen“ können aber gerade die Medienlinguistik beziehungsweise die angewandte Sprachlinguistik, die sich auf Handlungen bezieht, beitragen. 2. Damit hängt die Einsicht eng zusammen, dass Bilder zumeist eben nicht isoliert erscheinen, sondern „mit anderen Zeichenmodalitäten in Gesamttexten“ verknüpft sind. 3. Während schließlich andere Bildwissenschaften vor allem partikuläre Erkenntnisziele verfolgten, bilde gerade die Frage nach der kommunikativen Funktion von Bildern innerhalb „multimodaler“ Gesamttexte und „die Erforschung des komplexen Zusammenspiels von Bild und Sprache“ eine zentrale Aufgabe für die Auseinandersetzung mit Bildern.

Die Herausgeber erheben dabei den Anspruch, den derzeitigen Forschungsstand medienlinguistischer Bildanalysen insbesondere für Studierende sprach-, medien-, kommunikations- und kulturwissenschaftlicher Studiengänge zu dokumentieren sowie in Fallanalysen zu veranschaulichen. Der Band gliedert sich entsprechend in zwei etwa gleichberechtigte Teile, von denen der erste den theoretischen und methodischen Grundlagen einer solchen Disziplin gewidmet ist, die im zweiten Teil dann durch empirische Einzelstudien zu verschiedenen möglichen Gegenstandsbereichen der Bildlinguistik praktisch vorgeführt werden.

Ergänzt wird der Band von einem kommentierten Literaturverzeichnis, das Studierenden und anderen Interessierten weitere Orientierung ermöglichen soll. Es handelt sich dabei um eine Auswahl von nicht einmal 20 wissenschaftlichen Titeln, die abgesehen von einer englischen Ausgabe mit Essays von Roland Barthes vor allem aktuellere Titel zum Verhältnis von Sprache und Bildern sowie zu kommunikations- und medienwissenschaftlichen Aspekten von Sprache und Bild umfassen. Diese Beschränkung mag nützlich sein, um den Charakter eines Studienbuchs zu wahren, kann aber das Feld aktueller Bildwissenschaften nur bedingt abbilden. Zusätzliches multimediales Material, auf das sich einige der Fallbeispiele beziehen, stellt der Verlag über seine Homepage zur Verfügung. Es kann dort mit Hilfe eines im Band angegebenen Passwords und nach individueller Anmeldung heruntergeladen werden.

Alle Beiträge des Bandes folgen der Annahme, dass menschliche Kommunikation heute mehr denn je vom Zusammenspiel „multimodaler“ und materiell unterschiedlicher Zeichenträger bestimmt ist. Multimodale Kommunikation – Verständigung über mehrere Kommunikationskanäle – gilt den Herausgebern deshalb mit guten Gründen als Standardfall. Die Auseinandersetzung dieses besonderen Verhältnisses habe zwar Künstler durch das gesamte 20. Jahrhundert beschäftigt, kaum aber die Wissenschaft. Insofern benennt das „freche Wort“ Bildlinguistik im Titel des Bandes in der Tat ein Desiderat – den Wunsch nach weitergehender interdisziplinärer Untersuchung des komplexen Verhältnisses von Sprache und Bildern, wie es eingebettet in unterschiedlichen kommunikativen Handlungen erscheint. Der Begriff „Multimodalität“ wird allerdings aus linguistischer Sicht als unglücklich angesehen, da er bereits als grammatischer Terminus belegt ist. Hartmut Stöckl gilt er zudem als „vielleicht hochtrabender und vager Begriff für ein vergleichsweise einfaches und alltägliches Phänomen“, dennoch aber hält er wie die meisten anderen Beiträger/innen an ihm fest. Das ist insofern gerechtfertigt, als die Vorstellung „multimodaler Kompetenz“ im Sinne der Fähigkeit, komplexere Bild-Sprache-Gebilde beziehungsweise sogenannte „Gesamttexte“ zu erfassen, unmittelbar verständlich erscheint.

Die begrifflichen Uneindeutigkeiten sollten daher weniger als Ungenügen gewertet werden denn als Hinweis auf den ambitionierten Versuch, bestimmte Termini aus der wissenschaftlichen Tradition der Linguistik für die Erforschung neuer Gegenstandsbereiche zu öffnen und nutzbar zu machen. Die neun Einzelfallstudien belegen, wie viele Bereiche täglicher Kommunikation von komplexen Bild-Text-Verhältnissen bestimmt sind. Hajo Diekmannshenke etwa untersucht „Schlagbilder“, die im Vergleich zu Schlagworten zwar bedeutungsoffener sind und erst im begleitenden Sprachtext ihre aktuelle Bedeutung erhalten, sich gleichwohl aber zur Verdichtung und Zuspitzung kommunikativer Inhalte eignen. Der Ausdruck stammt von Aby Warburg, der ihn 1920 in Analogie zu der zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstehenden Schlagwortforschung prägte. Ein Beispiel solcher Schlagbilder, das Diekmannshenke anführt, stellen antisemitische Postkarten dar, auf denen antisemitische Überzeugungen durch ein Bildstereotyp in Kombination mit einer sprachlichen Ergänzung präsentiert werden. Daneben erscheinen Fotos historischer Ereignisse auf Titelblättern von Zeitschriften häufig als Schlagbilder. An dem bekannten Foto von Joe Rosenthal, das das Hissen der amerikanischen Fahne durch US-Marines am 23. Februar 1945 auf der japanischen Insel Iwo Jima zeigt, verfolgt Diekmannshenke Dekontextualisierungen und Neueinschreibungen, die das Motiv bis hin zu einem Titelbild des Spiegel aus dem Jahr 1999 verändern, wo aus der kriegsumkämpften Pazifikinsel die Urlaubsinsel Mallorca wird.

Andere Analysen sind etwa der visuellen Inszenierung von Spitzenpolitiker(inne)n auf ihren Internetseiten gewidmet (Beitrag von Michael Klemm) oder der Gattung des Fernseh-Werbespots (Eva Lia Wyss). In den Werbespots entstünden „auf der Grundlage narrativer Musterbildung sowohl neue Dimensionen globaler audiovisueller Erzählkultur als auch neue Formen der Wissensvermittlung und damit neue werbliche Wissensarten, die für die Umsetzung effektiver Kommunikation von höchster Relevanz sein dürften“. Als „effektive Kommunikation“ wird hier das offenkundige, funktionelle Ziel jeder Produktwerbung, möglichst viele Produkte zu verkaufen, wissenschaftlich verklausuliert, was im Fazit über eine besonders instrumentelle Form audiovisueller Kommunikation etwas verwundert.

Mehrere Beiträge beschäftigen sich mit Nachrichtenfilmbeiträgen, die aus komplexen Bild-Sprache-Kombinationen bestehen und durch Prozesse der „Transkriptivität“ etwa Quellenmaterial von Agenturen unterschiedlich verarbeiten (Aleksandra Gnach und Daniel Perrin; Werner Holly; Martin Luginbühl). Eine andere Form von Bildlichkeit konstruiert die Audiodeskription von Hörfilmen, also die Übersetzung von visuellen Informationen in Gesprochenes für die nichtsehenden Nutzer von Fernsehfilmangeboten (Beitrag Ulla Fix). Die letzten beiden Beiträge untersuchen mediale Transformationen von Kriegsbildern unter den Bedingungen des „embedded Journalism“ (Markus Lohoff) und die Bedeutungsänderung von zumeist generierten, also nicht-wahrnehmungsnahen Bildern der Wissenschaft im Zusammenhang mit ihren medialen Transformationen (Wolf-Andreas Liebert). Insgesamt gelingt dem Band ausgezeichnet, die „Baustelle Bildlinguistik“ als bereits auf soliden Fundamenten stehend zu präsentieren, indem die Bandbreite bildlinguistischer Analysen theoretisch und methodisch sowie anhand verschiedener Gegenstandsbereiche vorgeführt wird. Dass dabei keineswegs alle möglichen Untersuchungsfelder erfasst wurden, lässt sich mit dem Hinweis auf das Medium Comics andeuten, auf das zwar verschiedentlich verwiesen wird, dem im Band aber keine Einzeluntersuchung zukommt. Weil die Anwendungsbereiche multimodaler Bild-Sprache-Verknüpfungen in Zukunft wohl eher noch zunehmen werden, dürfte auch einer weiteren Differenzierung der Bildlinguistik sowie einer Ausweitung auf andere Gegenstandsfelder eine Zukunftsfähigkeit sicher sein. Der vorliegende Band samt seinen Zusatzmaterialien im Internet erfüllt jedenfalls den Anspruch eines gelungen Studienbuchs. Den Herausgebern gelingt es dabei sowohl das noch Unfertige der neuen Teildisziplin im Dialog unterschiedlicher Ansätze und Gegenstandsbereiche zu präsentieren als auch weitere Entwicklungsmöglichkeiten der Bildlinguistik anzudeuten.

Titelbild

Hartmut Stöckl / Michael Klemm / Hajo Diekmannshenke (Hg.): Bildlinguistik. Theorien - Methoden - Fallbeispiele.
Erich Schmidt Verlag, Berlin 2011.
384 Seiten, 49,80 EUR.
ISBN-13: 9783503122592

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