Grauburgunder

Helke Sanders altersfrische Kurzgeschichten „Der letzte Geschlechtsverkehr“

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helke Sander ist in vielerlei Hinsicht zu einiger Bekanntheit, wenn nicht gar Berühmtheit gelangt, als (Mit-)Initiatorin der Frauenbewegung, als Filmschaffende, als Wissenschaftlerin und als Autorin nicht nur, aber sehr wohl auch äußerst unterhaltsamer Literatur. Als solche ist sie nun mit dem Kurzgeschichtenband „Der letzte Geschlechtsverkehr“ ein weiteres Mal an die Öffentlichkeit getreten. Bei dem titelstiftenden Geschehen handelt es sich nicht etwa, wie sich vielleicht vermuten ließe, um den letzten Akt angesichts des Weltuntergangs.

Vielmehr sinniert eine „Angehörige der weiblichen sexuellen Pioniergeneration der Sechziger- und Siebzigerjahre“ über das – möglicherweise schon hinter ihr liegende – Ende ihres Sexuallebens und beginnt über Sex im Alter als Statussymbol zu räsonieren. Seit der Zeit des Aufbruchs sind also schon einige Jahrzehnte verstrichen, und heute zählt sie wie die meisten Protagonistinnen zu den „gebildeten Mitteleuropäerinnen der Mittelklasse, zwischen sechzig und siebzig“.

Längst sind sie arriviert, doch haben sie ihren feministischen Elan darum keineswegs verloren. Das verbindet sie mit der Autorin, die für einige Zeilen ganz unauffällig, fast möchte man sagen: subversiv Fragmente des sich besonders revolutionär gerierenden Jargons einer ‚kämpfenden Truppe‘ der 1970er-Jahre einfließen lässt. So etwa wenn eine ihrer Protagonistinnen die gesellschaftliche „Befreiung aus dem Gefängnis der Ehe“ feiert, aber zugleich fürchtet, „Teil eines größeren gesellschaftlichen Problems, nicht dessen Lösung“ zu sein.

Auch versteht es Sander immer wieder, in kaum mehr als einem Halbsatz die Lebenserfahrung und vielleicht auch -weisheit einer durch Wohngemeinschaften und Frauenbewegung sozialisierten und somit – wie man damals gesagt haben würde – politisierten Intellektuellen der Generation der ’68erInnen zu ventilieren, ohne dass sie je Gefahr laufen würde, dem agitatorisch-aufdringlichen Impetus der damaligen Zeit zu erliegen.

Gelegentlich gehen die Figuren der Kurzgeschichten auch schon mal auf die Hundert zu wie jene alte Dame, die lieber einen Grauburgunder zum Geburtstag bekäme, als wieder einmal „neues Geschirr“ und die sich ansonsten als erstaunlich durchsetzungsfähig erweist. Andere wiederum sind auch schon mal ein oder zwei Jahrzehnte jünger als die meisten Figuren. Nie jedoch sind sie ganz jung. Und manchmal rückt die Autorin auch Männer ins Zentrum des Geschehens, in dem sie bekanntlich tatsächlich ja viel zu oft stehen. So schickt sie etwa einen gutsituierten älteren Witwer ganz lebensecht „auf die Suche nach einer Partnerin für den Lebensabend“, die ihm „die Alltagsanstrengungen endlich wieder abnehmen“ wird, „ohne Kosten zu verursachen“. Oder die Herren heiraten – sofern es sich um „Politiker oder sonstige Prominente“ handelt – „wenige Monate oder sogar Wochen“ nach dem Tod der Ehegattin „eine wesentlich Jüngere“, was eine der Protagonistinnen zu der berechtigten Frage veranlasst, wie die „Zweit- oder Drittfrauen“ es nur über sich bringen, diese „alten Knacker“ zu ehelichen.

Oft, aber keineswegs ausnahmslos handelt es sich um eher traurige Geschichten über nicht mehr ganz junge Menschen, die noch immer darauf hoffen, dem Leben etwas Lust und, ja vielleicht auch ein kleines Quäntchen Glück abzutrotzen oder doch wenigstens die letzte Wegstrecke in der dünnen Luft der Hochebenen des alternden Menschen durchzustehen, ohne durch Atemnot und Erstickungsängste hervorgerufene Panikattacken zu erleiden. Dennoch ließe sich von diesen Geschichten beinahe sagen, sie kämen heiter daher, hätte die Autorin neben anderen Schreibwerkzeugen nicht eine leicht sarkastisch zugespitzte Feder auf dem Schreibtisch liegen, zu der sie immer mal wieder greift. So führt sie etwa einen treffenden Seitenhieb gegen die katholische Kirche: „Um Missbrauch zu verhindern, propagierten fortschrittliche Diskutanten, die Gefährdeten zu verheiraten, damit sie eine Frau zur Triebabfuhr hatten und keine Kinder mehr missbrauchen mussten.“

Wunderbar, wie hier die Täter zu den Gefährdeten werden und die reaktionäre Vorstellung einer Triebabfuhr zum Gedankengut des als fortschrittlicher geltenden Teils der Gläubigen. Noch schöner aber ist die Anmerkung, dass „Diakonissen, die ja ebenfalls zölibatär zu leben hatten, diese Vorschläge nicht gemacht werden“.

In einer anderen Story lässt Sander eine Protagonistin angesichts des vermuteten „neu ausgebrochene Liebeslebens“ in ihrer Wohngemeinschaft eine Frauenphantasie geradezu erleiden.

Die Geschichte „Zwei Männer im Zug“ hat hingegen ein ganz anderes Thema und setzt mit einem nur zu nachvollziehbaren Klagelied über das Generationenproblem zwischen Studierenden und ProfessorInnen ein, das zwei männliche Angehörige letzterer anstimmen. Fast darf man sich aus der Seele gesprochen fühlen, bis die beiden Hochschullehrer unvermittelt gegen „dieses ganze akademisch Gendergequake“ blank ziehen, was ihr Identifikationspotential denn doch ganz beträchtlich vermindert.

Bei all dem wird durchaus nichts schön geschrieben. Das Alter nicht und auch nicht der Alterssex. Ganz abgesehen davon, dass über ihn weit mehr nachgedacht wird, als dass er ausgeübt würde. All jenen, die vermuten oder wissen, dass sie den letzten Geschlechtsverkehr schon hinter sich gebracht haben, kann das Buch wärmstens zur – nicht nur, aber auch heiter-melancholischen, jedoch keinesfalls altersversonnenen – Lektüre empfohlen werden. Vielleicht aber ist es noch mehr jenen, die den ersten noch voller Erwartungen herbeisehnen, als Aufklärung darüber ans Herz zu legen, was da noch so alles auf sie zukommen könnte.

Titelbild

Helke Sander: Der letzte Geschlechtsverkehr. Und andere Geschichten über das Altern.
Verlag Antje Kunstmann, München 2011.
159 Seiten, 16,90 EUR.
ISBN-13: 9783888977282

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