Menschsein im stand by

Über Luc Boltanskis Kantate „Die Vorhölle“

Von Cathrin NielsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Cathrin Nielsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die geschichtliche Lage Europas, so der französische Moralsoziologe Luc Boltanski im Nachwort zu seiner 2006 in Paris uraufgeführten Kantate für mehrere Stimmen, ist „gewiss keine Hölle, aber doch weit entfernt davon, ein Paradies zu sein“. Sie gleicht eher einer Art Warteschleife, aber einer, in der den Wartenden das Ziel, ja die Sehnsucht insgesamt abhanden gekommen sind. Dabei meint Sehnsucht mehr als Bedürfnisse haben; was jedoch dieses ‚Mehr‘ sein könnte, ist vage geworden, ja der konsumatorischen „Herzmitte unserer Lebensweise“ entglitten. So ist es ein Warten ohne Hoffnung, welches die in provisorischen Unterkünften – Zeitungspapier, ein zusammengestauchtes Puppenhaus, ein Nest aus Autoreifen – hausenden Insassen dieser Vorhölle zeichnet. Als „Stimmen der Vergessenen“ werden sie lautbar: jede für sich endlos sich ihrer selbst versichernd, Splitter oder Fragmente eines tonlosen Selbstgesprächs, denen erst die Stimme des Wanderers einen Ort, ein Gesicht, eine Deutung von Hoffnung und Schmerz verleiht.

Wie fast 700 Jahre vor ihm der Dichter der „Göttlichen Komödie“, der sich an der Seite Vergils aufmachte, die jenseitige Welt zu erkunden, durchstreift auch der Wanderer dieser Kantate ein Jenseits. Freilich nicht jenes von Hölle, Purgatorium und Paradies, sondern eben die „Vorhölle“, lateinisch limbus, ursprünglich der Ort einer onto-theologischen Verlegenheit. In ihm verharren die Seelen derer, die ohne persönliches Verschulden aus der Offenbarung ausgeschlossenen sind, also vor allem ungetauft verstorbene Kinder und abgetriebene Föten. Sie müssen zwar keine Höllenqualen leiden, sind jedoch vom Zustand der Gnade exkludiert, was ihren eigentümlichen Zwischenzustand, ja ihre gespenstische Schwebe zwischen Existenz und Nicht-Existenz ausmacht. 2007 hat der Vatikan von diesem seit jeher angefochtenen Konzept als einer „unangemessenen, restriktiven Sicht von Rettung“ endgültig Abstand genommen. Und nun kommt ein französischer Soziologe und erklärt, kein anderer Begriff als der jenes limbus infantium treffe die geschichtliche, geistige und soziale Lage im heutigen Europa besser: Ort des ungeborenen bzw. ungetauften Lebens zwischen Himmel und Hölle.

„Von der Welt getrennt, aufenthaltslos, unbeteiligt
Gegenwartslos außer ihrem zeitlosen Warten
Meine Brüder: Ohne Sünde, ohne Heil, unverloren.“

Ein früheres Buch Boltanskis trägt den Titel „Soziologie der Abtreibung. Zur Lage des fötalen Lebens“ (2004). Hier hatte Boltanski den Fötus, dieses „ungewisse Wesen“ am Rand der Welt, in den Mittelpunkt seiner Überlegungen gestellt und damit auf die keineswegs selbstverständliche Frage nach dem „Zutritt zum Menschsein“ hingewiesen. Sie beruhe auf der im Zuge der Abtreibungsdebatte zutage getretenen Spannung, gesellschaftlich einerseits gleich und austauschbar zu sein, also ein unterschiedsloses Sein-für-andere, andererseits, als Sein-für-sich, singulär, und als singuläres Wesen bestrebt, in die Wahrnehmung und das Gedächtnis der anderen Eingang zu finden. Diese unaufhebbare Spannung berühre unser Menschsein selbst: Die condition fœtale als condition humain? In der Tat kommt das Schweben zwischen dem Sein-für-sich und dem Sein-für-andere wahrscheinlich nirgendwo drastischer zum Ausdruck als in der „Lage des fötalen Lebens“, jener Zwittergestalt zwischen tumoraler und personaler Existenz. Man darf dabei zweifellos auch an die Ortlosigkeit der sogenannten überzähligen Embryonen denken, in denen Verwertbarkeit und Verwerfbarkeit unmittelbar zusammenfallen.

Worum geht es also? Es geht um das Warten im Sinne einer totalen Auslieferung. Das schiere, ziellose Stehen-auf-der-Liste paart sich mit der „Selektion“ als einem Instrument, das einem den Zugang zu den Lebensbedingungen verschaffen soll, einem Instrument freilich, dessen Kriterien dunkel bleiben und von denen ungewiss ist, ob es sie überhaupt gibt. Denn wer oder was ist es eigentlich, der oder das da selektioniert? „Les limbes“, la „vaste zone“: Ein riesiges Lager? Eine riesige Petrischale? Ein riesiger Schoß?

Wie auch immer: In der Vorhölle hat der Begriff der Selektion, auf die man wartet, einen positiven Klang, einen Klang von Erwähltwerden, Es-geschafft-haben, wenn auch nur für den Moment. Er gehört weniger in den Horizont der Lager als in den der cité par projet, der Welt als Projekt, wie es der „neue Geist des Kapitalismus“, der die Grenzen zwischen dem Privaten, dem Öffentlichen und dem Ökonomischen gezielt einreißt, propagiert. Ihm obliegt es, das Gegebene in die Vorläufigkeit des Projektes umzuwandeln, die Wirklichkeit zur überholbaren Möglichkeit, das Seiende zum immer weiter optimierbaren Werden. Unter dem Diktat der reinen Optimierbarkeit bezieht sich die Selektion somit auf jedwede Form der Bestimmtheit; sie verfährt stets so, dass sie den Indikativ zugunsten seiner konjunktivischen Überhöhung überprüft und aushöhlt: Wann bin ich gerechtfertigt? Wann beginnt das gute Leben? Wie kann ich es schaffen? Warum habe ich es nicht geschafft?

„Beim Versuch, unsere Eigenart zu definieren,
Wähnen manche tatsächlich, dass wir eins sind
Ein Netz; Fluktuationen
Andere: Ein Leib; und wieder andere
Zahlen; oder manchmal: eine Sprache
Oder: schwimmende Festkörper im Äther
Verrate ihnen nicht, dass wir nichts als Schatten sind“

So ist der Limbus heute kein Ort einer onto-theologischen Verlegenheit mehr, sondern ein Ort, der in seiner neutralen, gesichtslosen Potenz zunehmend alle anderen Orte überwuchert: eine Schranke, ein checkpoint ins Leben als Projekt, an dessen Pforten Techniken der Überprüfung ihr Unwesen treiben, die selbst „niemand“ mehr überprüft, zumindest niemand, der aus Fleisch und Blut ist, aus Schuld und Hoffnung, aus Anteilnahme und Schmerz, oder wie sonst das Leben in seiner, auch moralischen, Vollgültigkeit genannt werden mag. Von hier aus ließe sich fragen, ob mit dem, was Boltanski hier auf eindrückliche Weise zur Sprache bringt, nicht auch eine Grenze der Soziologie erreicht ist, wenn die Soziologie sich traditionell mit dem Zusammenleben von Menschen befasst. Denn handelt es sich wirklich um Randexistenzen und Ausgegrenzte, um Namenlose, denen der Soziologe in Form des klagenden und deutenden Wanderers und Sängers begegnet? Um das Dispositiv eines Systems der Ungleichheit, in dem Selekteure von zu-Selektionierenden getrennt sind, nach dem Schema von Mächtigen und Untergebenen? Boltanski selbst stößt an diese Grenze vor, wenn er die Vorhölle als eine „geschichtliche Lage“ bezeichnet, die heute „die unsrige“ sei, in „diesem unserem Europa, in dem wir leben müssen“. Wer ist dieses ins Warten gebannte Wir, dessen Stimmung nicht die der „Sehnsucht“ ist, sondern die der „Vergessenheit“? Die Frage nach dem „Zutritt zum Menschsein“ hat auch eine ontologische Dimension sowie eine theologische, wie Boltanski zumindest inversiv deutlich macht, wenn er einer sich als säkularisiert begreifenden Gesellschaft einen explizit theologischen Topos wie den der Vorhölle als Spiegel vorhält.

Diese Kantante ist schön. Sie ist erschreckend, beteiligt, auf ihre Weise tief, vieldeutig und streitbar. Es ist zu bewundern, über welche sprachlichen Register, und das heißt ja immer auch: über welche Register der Einsicht und Berührbarkeit der Autor verfügt. Jean Greisch, derzeitiger Inhaber des Guardini Lehrstuhls in Berlin, hat eine schöne, ganz adäquate Übersetzung angefertigt und in einem instruktiven Nachwort die Übersetzungsarbeit wiederum in eine Lektüre übersetzt, eine ergänzende, auf zahllose Gespräche mit Boltanski zurückgreifen könnende Lektüre. Weiter wird das Buch ergänzt durch einen ausgezeichneten theologisch-philosophischen Essay des Herausgebers Rolf Schieder. Es befasst sich mit den kritischen Begriffen des „Rechtfertigungsimperativs“ und „Projektzwangs“ im Werk Boltanskis und erweitert damit den Deutungshorizont der Kantate um eine Einbettung in elementare Grundzüge der Boltanskischen „Soziologie der Kritik“. Diese begnügt sich nicht damit, aus der Warte der Distanz gesellschaftliche Verblendungszusammenhänge zu durchschauen, sondern nimmt sich selbst „als soziale Praxis im Modus einer deskriptiven Wissenschaft wahr“. Und nicht zuletzt wird das Gewebe der Stimmen von einer weiteren, lautlosen, aber überaus wirkmächtigen Stimme begleitet: Fotografien Christian Boltanskis (dem Bruder des Autors) von Händen, von ruhenden, fassenden, berührenden, sinkenden Händen. Aus dem Dunkel emportauchend greifen sie auf ihre Weise in das Stimmengewirr ein, ordnen, führen und besänftigen das Wort.

Titelbild

Luc Boltanski: Die Vorhölle. Eine Kantate für mehrere Stimmen.
Hrsg. von Rolf Schieder.
Aus dem Französischen von Jean Greisch.
Berlin University Press, Berlin 2011.
158 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783862800087

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