Krimi oder nicht Krimi?

Sigfrid Gauchs zweiter Roman in zweiter, überarbeiteter Neuauflage

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Sigfrid Gauch verbindet verschiedene Sujets zu neuer Einheit, verkettet komplizierte und tragische Schicksale auf mehreren Zeitebenen und stellt dem Leser nicht nur die Frage nach dem Genre seines Romans auf ebenso fordernde wie unterhaltende Weise.

Anna ist tot und Stefan trauert um sie. Das erste Bild zeigt eine junge Frau, deren nackter, lebloser Körper die Spuren schwerer, rätselhafter Misshandlungen zeigt und einen Mann, der fassungslos neben diesem Körper kniet, den er begehrt, berührt hat und der einer Frau gehört, die ihm viel bedeutet. Anna wurde geliebt und Anna wurde gefoltert. Sie wurde nicht nur mit zahlreichen Messerstichen verwundet; man hat ihr auch Runen ins Fleisch geritzt. Die Frage nach dem „Warum“ richtet der Autor durch den Mund des ebenfalls anwesenden Kommissars Matzenbacher nicht nur an Stefan Dorn, der den Leichnam im Winterhafen einer ungenannten Stadt am Rhein identifiziert, sondern gibt damit zugleich dem Leser eine Aufgabe, weckt sein Interesse, lässt ihn umblättern.

Es ist, so hat es den Anschein, der klassische Auftakt eines Kriminalromans. Die Zugehörigkeit zu diesem Genre scheint „Winterhafen“ danach jedoch für lange Zeit zu vergessen. Niemand ermittelt, stellt von Berufswegen Fragen, trinkt schlechten Kaffee oder rast mit Blaulicht durch die Stadt. Ein Umstand, der manchen Kritiker dazu bewogen hat, die Analogie zwischen akribischer Selbstbeobachtung, -zergliederung und Spurensuche der Beteiligten in ihrer eigenen Psyche, deren Zeuge der Leser im ersten Teil des Romans wird, zur Spurensuche des Kriminalisten zu betonen. Irgendwie ist das ja auch eine Art von Krimi. Sicher nicht falsch, doch kaum von Belang. Gauch schreibt einen hochverdichteten, mit literarischer Verve komponierten Roman, der eben auch Aspekte eines Krimis beinhaltet und dessen Erzählstränge auch bei jenem rätselhaften Tötungsdelikt zusammenlaufen, das neben einem ebenso rätselhaften Suizid einen der Mittelpunkte des Romangeschehens darstellt.

Gauch zeigt dem Leser seine Akteure en Detail und mit einem gerüttelt Maß an psychologischem Fingerspitzengefühl. Er lässt sie sich öffnen – in ihren Tagebucheinträgen, in Briefen, und in kleinen Gedichten, die über den einzelnen Abschnitten der Erzählung stehen – oder öffnet sie selbst vor dem Leser mit geradezu chirurgischer Präzision. Jeder Aspekt dieser schwierigen und facettenreichen Charaktere wird sichtbar – bis hinein in ihre Träume, deren Interpretation dem Leser überlassen bleibt. Gauch unterhält keine passiv kulinarischen Konsumenten, sondern aktive Leser, indem er beständig ihre Aufmerksamkeit einfordert.

Im Mittelpunkt des Beziehungsgeflechts, welches Gauch stückchenweise wie ein Puzzle vor den Augen des Rezipienten zusammenwirkt, steht die Figur des Pädagogen Stefan Dorn. Er ist es, der die Leiche der Psychiaterin Dr. Anna Morgenstern, identifiziert; seiner Geliebten für kurze Zeit, die für ihn so viel mehr war als das. Und er ist der Vater von Patricia Dorn, deren Überreste nach ihrem Sprung aus dem 21. Stockwerk er nicht mehr identifizieren muss, ja nicht einmal mehr sehen soll, weil man ihm in aller Dringlichkeit davon abrät. Beide Frauen, deren Schicksal er erfährt und lange Zeit danach aufklärt, sind einander ähnlich. Beide sind hochkomplexe, schwierige Persönlichkeiten. Anna, die unstete, flirrende, schillernd schöne, androgyne Ärztin, von der sich Dorn gleich zweimal unter Schmerzen verabschieden muss. Patricia, das psychisch labile, beziehungsunfähige und politoxikomane Mädchen, das an der Kontingenz, die dem Menschen Entscheidungen abverlangt, deren jede tausendfaches Loslassen impliziert, ebenso zerbricht, wie an der eigenen charakterlichen Disposition, die sie als notwendig und schicksalhaft interpretiert.

Ihre Geschichten werden entlang der Lebenslinie des erfolgreichen Pädagogen unchronologisch erzählt. Dabei bleibt jedoch – dies ist das wichtigste Charakteristikum dieses verwinkelten und mäandernden Romans – nichts rein zufällig. Ein Schlag regt auch hier tausend Verbindungen und alles hängt zusammen. Wenn Sigfrid Gauch im letzten Viertel von „Winterhafen“ beginnt, die Stränge zu entwirren, ist der aufmerksame Leser derart angespannt und begierig auf die Auflösung, dass er sich gegen seinen Drang zum Innehalten zwingen muss, um nicht mit dem Querlesen zu beginnen, was dem Text Unrecht täte.

Wahre Meisterschaft zeigt der Autor nicht allein beim Ver- und Entwirren der Handlungsstränge seiner Erzählung, sondern auch auf den (notwendigen, nicht nur zufällig eingestreuten) Nebenschauplätzen. Die kleinen Geschichten, die er um Patricias finalen Sprung gruppiert, um den Freitod zu illustrieren, sind in ihrer nüchternen Präzision grauenerregend. Am tiefsten vermag die Geschichte des eineinhalbjährigen David zu berühren, der sich am Fenster dem bergenden Griff seiner Mutter entwindet und zehn Meter tiefer auf den Waschbetonplatten (das am häufigsten gebrauchte Wort des Romans) zerschellt. Man hört die Mutter schreien, sieht das fluoreszierend weiße Gesicht des Vaters, der den Notarztwagen noch streichelt, nachdem in seinem Inneren das Licht und mit diesem jede Hoffnung verloschen ist. Auch die perfide, ekelhafte Grausamkeit von Patricias Freund Christian Wagner dürfte niemanden kalt lassen.

Wer eine Buchkritik verfasst, deren Tenor allzu wohlmeinend daher kommt, stellt sich selbst unter Generalverdacht des Lobhudelns. Sucht man, um sich dieses Verdachts zu erwehren, nach dem Haar in der literarischen Suppe, was umso leichter fällt, wenn man die Suppe ob ihres Wohlgeschmacks bereits beinahe zu Ende gelöffelt hat, bleibt das Experiment Gauchs mit der Jugend- oder Schülersprache, oder dem, was er dafür hält. Wer Gelegenheit hatte, einen befreundeten Lehrer nach Inhalt und Duktus von während des Unterrichts im Verborgenen kursierender Zettelbriefchen zu fragen, deren lautes Vorlesen coram publico durch den Lehrer, der ihrer habhaft wurde, selbst ihrem Verfasser die Schamröte ins Gesicht treibt, kauft Gauch manche Sätze nicht wirklich ab. Auch Einsprengsel wie „Oioioi“, „Jodelidü“ oder Gebrauch fäkalsprachlicher Kraftausdrücke können nicht verhehlen, dass hier ein Pen-Vorstand und versierter Schreiber versucht, sich durch den Mund fiktiver Pubertierender mitzuteilen. Gerade im gruseligen Fall des fixenden Kindes Patricia und seines Tagebuchs zweifelt man zuweilen an der Authentizität. Wäre die Jugendsprache hingegen vollends authentisch, so wäre Authentizität gleichbedeutend mit Unleserlichkeit, womit Gauchs Versuch einer literarisch-hochsprachlichen Jugendsprache zugunsten der Lesbarkeit gerechtfertigt wäre. Überhaupt ist diese Kritik stark subjektiv gefärbt. Mancher Gymnasiallehrer mit einer sehr begabten Klasse wird vielleicht nichts auszusetzen haben.

Sigfrid Gauchs Winterhafen ist ein ebenso anstrengender wie anregender Roman, dessen Autor auf der Klaviatur des Kriminalromans ebenso sicher zu greifen weiß, wie auf – je nach der Hauptperson um die es geht – jener des Entwicklungsromans, des Liebes-, Zeit- oder auch Gesellschaftsromans. Das mancher Leser an der Glaubwürdigkeit der jugendlichen Personen zweifeln mag, was ihren Grund in der Sprache hat, in der sie sich mitteilt, bleibt das sprichwörtliche Haar in der Suppe und ist nicht in der Lage, einen durchaus positiven Gesamteindruck ernstlich zu schmälern. Hat man atemlos zu Ende gelesen, möchte man die Lektüre wiederholen, um noch einmal jedem Faden nachzuspüren und erneut vom Anfang her auf dieses nunmehr bekannte Ende hin zu lesen. Für die Lektüre vieler Bücher auf dem Markt ist das Leben eindeutig zu kurz; ein paar Stunden davon für Sigfrid Gauchs Winterhafen zu nutzen, ist dagegen nachdrücklich anzuraten.

Titelbild

Sigfrid Gauch: Winterhafen. Roman.
Verlag Brandes & Apsel, Frankfurt, M. 2011.
343 Seiten, 26,90 EUR.
ISBN-13: 9783860997000

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