„Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit!“

Ulrich Beck und Angelika Poferl haben Grundlagentexte der globalen Ungleichheitsforschung zusammengetragen

Von Michael FaciusRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Facius

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Diese himmelschreiende Ungerechtigkeit!“ ruft Ulrich Beck in seinem zeitgleich mit der vorliegenden Aufsatzsammlung erschienenen Essay-Band „Nachrichten aus der Weltinnenpolitik“ aus, als er auf einer Kongressreise in San Francisco mit der Allgegenwärtigkeit von Obdachlosen, Bettlern und anderen prekären Existenzen konfrontiert wird. Während sich Beck in den „Nachrichten“ ob der globalen Widersprüche den ein oder anderen Gefühlsausbruch leistet, setzt er in „Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationalisierung globaler Ungleichheit“ mit seiner Mitherausgeberin Angelika Poferl auf soziologische Nüchternheit.

Der Band stellt bereits andernorts veröffentlichte, im Original mehrheitlich englischsprachige Aufsätze zur Ungleichheitsforschung zusammen, die bis auf Immanuel Wallersteins „Klassenanalyse und Weltsystemanalyse“ innerhalb der letzten 15 Jahre erschienen sind. Das Anliegen des Bandes ist also weniger, einen neuen Beitrag zur Ungleichheitsforschung zu leisten, als deren Grundzüge für deutschsprachige Leserinnen und Leser handlich verfügbar zu machen. Die Herausgeber haben die 23 Beiträge zwar in sechs Sektionen eingeordnet. Deren orientierender Nutzen ist jedoch aufgrund der thematischen und methodischen Vielfalt der Beiträge beschränkt.

In ihrer knappen Einleitung, dem einzigen eigens für diesen Band verfassten Beitrag, diskutieren Beck und Poferl, was es mit „Transnationalisierung sozialer Ungleichheit“ auf sich hat. Wobei der Titel irreführend ist, weil die Autoren nicht behaupten, dass Ungleichheit zuvor nur innerhalb von Nationalstaaten existierte, seit kurzem aber den nationalen Rahmen überspringt. Was auch kaum überzeugen würde, denn Ungleichheit ist transnational, seit es Nationalstaaten gibt. Stattdessen argumentieren sie, dass erstens die Qualität und Quantität von Ungleichheit weltweit zugenommen hat, und dass zweitens der Blick auf die Ungleichheit zunehmend transnationalisiert wird – und auch werden sollte.

Was sich zuerst wie ein Allgemeinplatz anhört, ist tatsächlich nach wie vor von wenig Relevanz für die Praxis. Und Praxis heißt hier nicht bloß die Theoriebildung in der Soziologie, sondern auch das politische Handeln nationaler Regierungen und das Alltagshandeln der Bevölkerung. In der Soziologie (und auch in anderen Geistes- und Sozialwissenschaften) herrschte bis vor kurzem fast uneingeschränkt das Prinzip des „methodischen Nationalismus“, also einer der Untersuchung vorausgehenden Beschränkung des Untersuchungsrahmens auf einzelne Nationalstaaten. Damit lassen sich aber die Auswirkungen von Klimawandel, globale Kapital- und Wirtschaftsströme, Effekte von Migration und vieles andere nicht mehr angemessen erfassen.

In Politik und Bevölkerung andererseits wirkt sich die nationale Grenze ebenfalls massiv auf die Wahrnehmung von Ungleichheit aus. Sie dient als mächtiges Legitimationsinstrument, damit „wir“ uns nicht für Leid und Armut anderer interessieren müssen – weder in unseren privaten Konsumentscheidungen, noch in politischen Programmen. In den harten aber zutreffenden Worten der Autoren: „Die ‚Legitimation‘ globaler Ungleichheiten beruht […] auf institutionalisiertem Wegsehen. Der nationale Blick ‚befreit‘ vom Blick auf das Elend der Welt.“

Beck und Poferl schlagen daher einen „kosmopolitischen Blick“ vor, um die soziologische, politische und gesellschaftliche Wahrnehmung von Ungleichheit zu verändern, wobei es den Autoren natürlich zuallererst um die soziologische Theoriebildung zu tun ist. Dementsprechend sind die Texte ausgewählt worden. Der Band versammelt im Wesentlichen Bemühungen, ein geeignetes Vokabular zu finden, um globale Ungleichheit zu erfassen und zu beschreiben, enthält also hauptsächlich theoretische Annäherungen an das Thema und Argumentationen auf der Makro-Ebene. Nur zwei Beiträge, in der Sektion „Globale Gerechtigkeit“, beschäftigen sich explizit damit, was daraus moralisch (Amartya Sen) und politisch (Thomas W. Pogge) folgen könnte.

Die thematische Bandbreite reicht ansonsten von der Rolle von Geschlecht (Joan Acker) und Migration (Regina Römhild, Jack Burgers/Godfried Engbersen) über die Frage, ob man von einer globalen Erwerbsbevölkerung (Manuel Castells) beziehungsweise einer transnationale Klasse des Kapitals (Leslie Sklair) sprechen könne, bis zur Frage, wie Solidarität global neu zu denken sei (Angelika Poferl). Von großem Wert für eine Positionierung in politischen und wirtschaftlichen Debatten ist der Beitrag von Robert Hunter Wade zur Messbarkeit der Zunahme von Armut und Ungleichheit – „Alles eine große Lüge?“ Etwas überraschend ist, dass das Problem der Legitimation globaler Ungleichheit, die in der Einleitung angesprochen wird, nicht mit einem eigenen Beitrag bedacht wurde.

Bedauerlich hingegen ist, dass der Reader auf dem historischen Auge blind ist. Dies mag sicherlich auch mit einer Frage der Schwerpunktsetzung eines soziologischen Herausgeberteams zu tun haben. Es erscheint dennoch ein wenig dürftig, wenn bei einem fast 700-seitigen Reader historische Ursprünge und Fluchtpunkte der Globalisierung von Ungleichheit in bloß einem Beitrag („Globalisierung und Ungleichheit“ von Göran Therborn) innerhalb eines sechsseitigen Abschnitts („Der Einfluss der Geschichte“) durchgenudelt werden. Zudem nach einer Dekade, in der die historische Forschung zu Globalisierung und Kolonialismus geradezu explodiert ist.

Davon einmal abgesehen: Der Band leistet einen wichtigen Beitrag, um die soziologische und gesellschaftliche Debatte in Deutschland zu sozialer Ungleichheit voranzubringen, indem er Perspektiven aufzeigt, Ungleichheit als globales Phänomen zu begreifen. In einer Zeit, in der Selbstmorde chinesischer iPhone-Monteure nicht zu einem globalen Apple-Boykott, sondern zur Vergitterung von Fenstern und Montage von Abfangnetzen führen, in der prekarisierte Massen im Herzen Europas den Aufstand proben und im „arabischen Frühling“ autokratische Regimes gestürzt werden, ist dies nicht nur zu begrüßen, sondern erscheint auch dringend angebracht.

Titelbild

Ulrich Beck / Angelika Poferl (Hg.): Große Armut, großer Reichtum. Zur Transnationalisierung sozialer Ungleichheit.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2010.
694 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783518126141

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch