Der Wolf im Menschen und der mörderische Stalinismus

Ein Überlebensbericht aus dem Gulag

Von Rudolf WaltherRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rudolf Walther

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kolyma - der Name steht für Stalins berüchtigtes Todeslager in Sibirien. Ein Überlebender berichtet. Das Buch beginnt mit einer Szene, wie man sie aus Dutzenden von Western und Kriegsfilmen kennt: ein Mann schaufelt mit letzter Energie ein Loch in den Boden. Ein Bewaffneter überwacht den Grabenden, lässt ihn fesseln, niederknien und erschießt ihn schließlich kaltblütig mit einem Genickschuss. Der Tote fällt in die Grube. - Der aus Polen stammende, mittlerweile in den USA lebende Chirurg Janusz Bardach hat diese Szene nicht im Kino gesehen, sondern als junger Soldat in der Roten Armee selbst erlebt. Er manövrierte mit einem Panzer so ungeschickt, dass dieser in einem Fluss kenterte. Das summarische Verfahren des sowjetischen Kriegsgerichts erkannte in seinem Verhalten "Sabotage und Kollaboration" und verurteilte ihn zum Tode. Das Urteil wurde nicht vollstreckt, weil ein Offizier Erbarmen zeigte und den Soldaten rettete.

Was Bardach dann beschreibt - die zehn Jahre Zwangsarbeit - verdient allerdings weder den Begriff "Begnadigung" noch den der "Rettung". Schon der Weg nach Sibirien zwischen Oktober 1941 und März 1942 in der Eisenbahn, auf dem Schiff und zu Fuß war eine Hölle. In einer Mischung aus politischen Gefangen und gewöhnlichen Kriminellen erlebte Bardach ein unvorstellbares Ausmaß an Gewalt, Gemeinheit und Niedertracht zwischen Bewachern und Bewachten, aber auch unter diesen selbst. Dank der präzisen Sprache der erfahrenen Sachbuchautorin Kathleen Gleeson, die Bardach beim Schreiben des Buches unterstützte, ist die Beschreibung dieser unglaublichen Gewalt- und Horrorszenen überhaupt lesbar.

Bardach erzählt, wie viele der "Lagerniks" dem physischen und psychischen Druck in den Lagern von Kolyma schnell starben. Die täglich zwölfstündige Schwerarbeit in den Goldminen ruinierte auch gesundheitlich stabile Gefangene in kurzer Zeit. Dazu trugen nicht allein die miserable Ernährung und die unzulänglichen hygienischen Verhältnisse bei, sondern vor allem auch die klimatischen Verhältnisse mit Außentemperaturen bis zu minus 72 Grad. Obendrein waren die Gefangenen einem terroristischen Willkürregiment von Verhören über Einzelhaft im "Isolator" bis zur Folter ausgesetzt.

Beim Lesen des sachlichen Berichts über die Ungeheuerlichkeiten, die sich in Stalins Todeslagern ("dochodilowka", wörtlich: "der Wort, wo man seine Grenzen stößt") abgespielt haben, stellen sich zwei Fragen immer wieder: Wie hat man sich den Überlebenden vorzustellen? Was hat ihm die Kraft und die Möglichkeit gegeben in dieser Hölle zu überleben, wo den Wächtern das Leben der Gefangenen nichts wert war und jeder Gefangene zu des anderen Gefangenen Wolf wurde, wo der Streit um das Essen oder eine Zigarette tödlich enden konnte? Der Autor selbst kann die Frage nicht beantworten. Einige Male hat er einfach Glück gehabt, weil ihm jemand geholfen hat. Überlebenswichtig war für Bardach, sich dem Stumpfsinn und der Härte des Lagerlebens anzupassen - nicht nach dem Warum und Wie-lange-noch zu fragen, nicht an die Vergangenheit oder an die Angehörigen zu denken, sondern jede Minute des Lebens als ein Stück Restleben hinzunehmen und sich nicht "auf die Stufe der Tiere [...] drücken" zu lassen.

Auf die andere Frage des Lesers, warum die stalinistische Herrschaft dieses Lagersystem, in dem Millionen von sowjetischen Bürgerinnen und Bürger zu Tode geschunden worden sind, eingerichtet hat, will Bardachs als Lebensbericht angelegtes Buch keine Antwort geben. Der Herausgeber des "Schwarzbuchs des Kommunismus" wollte das Lagersystem aus der Paranoia Stalins und aus der "verbrechenerzeugenden Idee des Kommunismus" herleiten. Beide Antworten haben sich als unzulänglich erwiesen. Bardachs Überlebensbericht belegt zumindest, dass man es sich mit den Antworten nicht zu einfach machen sollte.

Titelbild

Janusz Bardach / Kathleen Gleeson: Der Mensch ist des Menschen Wolf.
dtv Verlag, München 2000.
470 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-10: 3423241845

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