Mehrdimensional

Patricia Zuckerhut und Barbara Grubner haben einen Sammelband mit sozialwissenschaftlichen Perspektiven auf sexualisierte Gewalt herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gewalt und Geschlecht“ lautet der etwas unspezifische Titel eines von Patricia Zuckerhut und Barbara Grubner herausgegebenen Sammelbandes. So informiert er nicht darüber, dass das interessierte Publikum vorwiegend Texte über „Gewalt in Lateinamerika“ und die „Anthropologie der Gewalt“ erwarten kann. Auch der Untertitel des Bandes „Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf sexualisierte Gewalt“ lässt darüber im Unklaren. „Gewalt in Lateinamerika“ und „Anthropologie der Gewalt“ aber waren die Themen zweier in den Jahren 2006 und 2007 in Strobl am Wolfgangsee und in Wien veranstalteter Workshops, die unter den Stichworten „Geschlecht – Macht – Politik“ standen. Auf eben diese Veranstaltungen geht der vorliegende Band zurück.

Ebenfalls recht unspezifisch benutzt Mitherausgeberin Zuckerhut den Topos der „sexualisierten Gewalt“, unter den sie alle Gewalt fasst, „die sich bewusst und gezielt auf die Verletzung der Integrität eines Menschen als Angehörige/r einer Geschlechtsgruppe richtet“. Das wäre wohl eher eine instruktive Definition des Terminus geschlechtsbezogene Gewalt, der zugleich ein Oberbegriff ist, unter den diejenigen der sexualisierten Gewalt und der gewalttätigen Sexualität fallen, ohne dass diese ihn ganz ausfüllen.

Die zweite Herausgeberin, Barbara Grubner, weist in der Einleitung hingegen zu Recht darauf hin, dass „geschlechtsbezogene Gewalt“ entgegen landläufiger Meinung „kein randständiges soziales Phänomen“ ist, sondern vielmehr als „Normalfall patriarchalisch strukturierter Gesellschaftsformen“ gelten kann. Wichtiger aber noch sind die Überlegungen, die sie an diese Feststellung anschließt. Ihre Auffassung, dass einschlägige „Gewalthandlungen“ als „genuin sinnhafte Handlungen“ verstanden werden müssen, mag zwar zunächst nicht sonderlich plausibel erscheinen, gewinnt allerdings immens an Überzeugungskraft, wenn sie darlegt, dass es dabei weniger um den ‚subjektive Sinn‘ geht, der dem Handeln für den Akteur innewohnt, sondern darum, was diese Gewalt „bedeutet“. Anders gesagt: Es geht nicht um die „Dimension der physischen Verletzung“, sondern um die gesellschaftliche Dimension und Funktion – mit hin um den gesellschaftlichen Sinn – von Gewalt. Und dies heißt im Falle geschlechtsbezogener Gewalt, deren Täter in aller Regel männlich und deren Opfer fast ausnahmslos weiblich sind, dass im Zentrum des Interesses die Beantwortung der Frage steht, welchen Sinn diese Gewalthandlungen für die patriarchalische Ordnung haben. Somit besteht ein nicht geringes Verdienst von Grubners Einleitung darin, der Individualisierung von geschlechtsbezogenen Gewalttaten entgegenzuwirken und darauf hinzuarbeiten, dass sie im patriarchalischen Kontext verortet und analysiert werden.

Die Beiträge des Bandes verbinden geschlechterbezogene Gewalthandlungen dementsprechend mit „breiteren sozialen Kontexten und gesellschaftlichen Strukturen“. Dabei gehen die Herausgeberinnen selbst „sexualisierter, rassialisierter und epistemischer Gewalt als Grundlagen von Kolonialität und Modernität“ nach (Zuckerhut) oder stellen „Überlegungen zu transnationalen Arbeits- und Gewaltverhältnissen im Privathaushalt“ an. Die anderen BeiträgerInnen untersuchen „Anthropophagie, Ökonomie und Doppelmoral im Zeitalter der Konquista“ (Brigitte Fuchs), machen „europäische Reiseschriftstellerinnen als Befürworterinnen und ‚Agentinnen des Kolonialismus‘“ aus (Gabriele Habinger), arbeiten den Zusammenhang von „sexualisierter Gewalt und Apartheid am Beispiel Südafrikas“ heraus (Martina Mezgolits) oder stellen Überlegungen „zur Konstitution von Gewalt an der Schnittstelle von Geschlecht, Sexualität, Erziehung“ an (Jens Kastner und Elsabeth Tuider).

Nicht immer liest man diese Aufsätze mit ähnlich großem Gewinn wie die Einleitung.

Titelbild

Patricia Zuckerhut / Barbara Grubner (Hg.): Gewalt und Geschlecht. Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf sexualisierte Gewalt.
Peter Lang Verlag, Frankfurt am Main 2011.
160 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-13: 9783631612897

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