Ein Land tritt auf der Stelle

Zafer Senocaks Buch „Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“ ist eine argumentativ ausgefeilte und in mehrfacher Hinsicht „vernünftige“ Antwort auf die anhaltende Integrationsdebatte

Von Monika StranakovaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Monika Stranakova

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Nüchterne Analysen haben im öffentlichen Migrationsdiskurs eher einen Seltenheitscharakter. Wohin man nur schaut, Wut, Angriffslust, diffamierende Rhetorik und Unmut über alle Maßen. Mit großer Wirkungskraft verpesten Wörter wie „unvereinbar“ und „unversöhnlich“ das an sich schon schwierige Zusammenleben. Schafft sich Deutschland ab? Ja, meinte neulich der deutsche Schriftsteller türkischer Herkunft Zafer Şenocak in einem Interview mit der Tageszeitung „Die Welt“, denn Deutschland verliere die Neugier auf die Welt. Sein Urteil, und das gibt seinen Worten Gewicht, stützt sich auf zwei Jahrzehnte kritische Beobachtung.

Zafer Şenocak, Jahrgang 1961, verlebte seine frühe Kindheit in Ankara und Istanbul, bevor die Familie 1970 nach München übersiedelte. Er machte zunächst als Dichter expressionistisch inspirierter Großstadtlyrik auf sich aufmerksam, veröffentlichte später mehrere Prosatexte, unter anderem seinen in der Literaturwissenschaft vielbeachteten Roman „Gefährliche Verwandtschaft“ (1998). Seine Beschäftigung mit Fragen der Einwanderung und Integration in Deutschland, einschließlich Themen der islamischen Tradition(en) und türkischen Identität in der Moderne, setzte mit der Wiedervereinigung Deutschlands ein. Der damals schon in Berlin lebende Autor nahm sie als Zäsur sowohl in den Beziehungen der Deutschen und der Türken als auch in der Entwicklung der Türken zu einer kosmopolitischen Gruppierung wahr. Seine politischen Essays und Beiträge, die man u.a. aus der „taz“, „Die Welt“ und „Die Zeit“ kennt, liegen auch gesammelt in mehreren Bänden – „Atlas des tropischen Deutschland“ (1992), „War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas“ (1994), „Zungenentfernung. Bericht aus der Quarantänestation“ (2001) und „Das Land hinter den Buchstaben. Deutschland und der Islam im Umbruch“ (2006) – vor.

Im aktuellen Buch „Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“ erfolgt der Einstieg in die Thematik eher sanft, über die Sprache. Şenocak schildert die Erinnerungen des Achtjährigen an das kleine Städtchen Murnau im bayerischen Voralpenland mit seiner „Nachtruhe“ und anderen (deutschen) Eigenarten, vor allem aber an den Erwerb der Sprache samt ihrer Herausforderungen und überraschenden Momente. Nicht weniger steht am Ende dieses langwierigen Prozesses als die Hingabe, das Eintauchen in Tiefen, die Geborgenheit bieten. Zu den späteren dichterischen Vorbildern gehören Ingeborg Bachmann und Paul Celan. Zu Hause wird von Anfang an auch auf ein gepflegtes Türkisch geachtet. Beiden Sprachen wird so mehr zugestanden, als eine schlichte Daseinsberechtigung. Die (exterritorialisierte) türkische Sprache bekommt eine neue Heimat in Deutschland, die deutsche wiederum wird so sinnlich genossen wie die Muttersprache. Darin sieht Şenocak auch das Geheimnis einer funktionierenden Zweisprachigkeit: in einem Leben in zwei Sprachen und ihrem (nicht nur rationalen) Verständnis. Erst mit ihrer emotionalen Annahme werden ein „Hineindenken ins Eigensein, das nicht selten auch ein Anderssein ist“, und ein Übersetzen über kulturelle Grenzen hinweg möglich.

Nichts von dieser Lust sei aber, so Şenocak, in Deutschland spürbar, wenn auf der einen Seite über Zurückweisung und Selbstverständnis, auf der anderen über Integration und Sprachdefizite gesprochen wird. Erwartet und geleistet wird, wie die zunehmende soziale Integration im Bildungsbereich und auf dem Arbeitsmarkt beweist, lediglich eine „mechanische Anpassung“. Was nach wie vor zum Erfolg fehle, sei eine Auseinandersetzung mit den Gepflogenheiten und dem kulturellen Erbe des Einwanderungslandes. Doch dies gestaltet sich nicht nur wegen der mangelnden Bereitschaft vieler Einwanderer, sich geistig auf Deutschland einzulassen, äußerst schwierig.

Wesentlich fatalere Auswirkungen auf das Zusammenleben hat das, was Şenocak als „gebrochenes Deutsch“ bezeichnet, nämlich das widersprüchliche Verhältnis der Deutschen zu sich selbst. Er beleuchtet aus immer neuer Perspektive den Identitätsfindungsprozess, dessen Mechanismen und Tabubereiche, und fragt sich, wie man eine solche, „offiziell nicht gesprochene Sprache“ lernt. Denn die Konsequenzen liegen auf der Hand: Durch die Fantasien einer homogenen deutschen Nation sind Migrationsdebatten nur als Integrationsdebatten denkbar, was wiederum die Definition der eigenen (ethnischen, nationalen, religiösen) Identität, vorzugsweise in Abgrenzung zu der anderen, nach sich zieht.

Zudem scheint das kollektive Nationalgefühl insbesondere unter den Bedingungen der Globalisierung ein unzeitgemäßes Identifikationsangebot zu sein, weil es die Realität verkennt und eine festgefügte Ordnung vorgaukelt, während sich in (und zwischen) den Gesellschaften alles in permanenter Bewegung, im Werden, befindet. Statt herkömmlicher Erklärungsmuster müssten alternative Wahrnehmungsformen her. Man könnte als Anfang, denkt der Leser vom Gelesenen inspiriert, die in der dritten Generation erfahrungsgemäß wieder stärker werdende Bindung der Einwanderer an ihre Muttersprache und ihre Herkunft bei zugleich wachsender Kompetenz in der deutschen Gesellschaft als eine produktive Form der Vernetzung betrachten und ihr Potential ausschöpfen, statt ständig und überall Parallelwelten zu imaginieren.

Dass Räume, „die Kontinuität und Widererkennung versprechen“, „elementar notwendig [sind], um das Einleben in einem fremden Land zu erleichtern“, davon ist Şenocak überzeugt. Man sollte die deutsche nationale Identität „mit ihren Brüchen und Widersprüchen, so wie sie sich heute darstellt, offen, zumindest aber offener thematisieren. Warum gelingt das, was in Ansätzen zwischen Ost- und Westdeutschland möglich war, nämlich ein Austausch über den unterschiedlichen Weg der Biografien, zwischen Deutschen und den anderen nicht?“

Grundsätzlich wünscht sich Şenocak mehr Vernunft in den Diskussionen. Schon in seinen früheren Beiträgen mahnte er zu einer nüchterneren Betrachtung der Gegebenheiten und forderte ein Umdenken auf beiden Seiten. Gemeint ist damit aber auch die Kommunikationsgrundlage der Begegnung und des Zusammenlebens, eine auf den Menschenrechten und den Werten der Aufklärung beruhende universelle Zivilisationssprache, für die Şenocak immer deutlicher plädiert. Denn, was etwa das Verhältnis zu den islamischen Kulturen betrifft, man ist  längst hinter die Standards des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgefallen. Vielfalt ist dem Menschen zumutbar, solange man ihr nicht mit einseitigen, simplifizierenden Reden à la Sarrazin begegnet, sondern auf ein solides Fundament baut.

„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“ ist ein glänzendes Beispiel dafür, was Şenocak von seinem Leser fordert, nämlich eine tiefgehende Auseinandersetzung mit einem Deutschland auf dem Weg zu einer offenen Gesellschaft. Şenocaks Innensicht, die zugleich eine Außensicht ist, entfaltet durch die häufig auftretenden Aha-Erlebnisse eine starke Sogwirkung. Noch stärker ist bei der Lektüre lediglich das Gefühl, den in Deutschland herrschenden geistigen Stillstand in Integrationsfragen zu bekämpfen, indem man dieses inspirierende Buch zur Pflichtlektüre all jener macht, die es besser wissen müssten. Denn die Kenner von Şenocaks Essayistik werden staunend feststellen müssen, dass sich im Laufe der letzten 20 Jahre nur die gesellschaftlichen Ereignisse, über die berichtet wird, nicht aber die Rahmenbedingungen und die davon abhängige Argumentation verändert haben. Der geforderte Lernprozess fand also bisher schlichtweg nicht statt.

Titelbild

Zafer Senocak: Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift.
Körber-Stiftung, Hamburg 2011.
190 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783896840837

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