Flaschenpost mit Anekdoten aus dem pittoresken Paris

Guillaume Apollinaires Flaneurbüchlein erscheint nach beinahe 100 Jahren auf deutsch

Von Bernd BlaschkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bernd Blaschke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das Werk des modernen Klassikers Apollinaires ist ähnlich vielfältig wie seine Herkunft. Als unehelicher Sohn einer polnisch-russisch-italienischen Kleinadeligen und ihres hochadeligen italienische Geliebten 1880 in Rom geboren, kam er über Monaco nach Paris. Dort schlug er sich mit Brotjobs als Bankgehilfe, Ghostwriter, Chefredakteur einer Rentiers-Zeitschrift oder Porno-Autor durch. Er befreundete sich 1905 eng mit Picasso, verkehrte mit Alfred Jarry und anderen Avantgardisten. Und er verfasste Lyrik und Prosatexte. Die machten ihn, leider erst nach seinem frühen Tod 1919, zu einem weithin verehrten Klassiker der Moderne. Als französischer Patriot zog der erst spät mit der vollen französischen Staatsbürgerschaft Versehene freiwillig in den Ersten Weltkrieg, wo er sich eine kaum heilende Kopfverletzung zuzog. Die Gedichte der Sammlung „Alcools“ gehören ebenso zu den bahnbrechenden lyrischen Werken der Moderne wie seine typografisch reizvoll arrangierten Bildergedichte, die „Calligrammes“. Apollinaire schrieb nicht nur avanciert, absurd und grotesk fürs Theater („Die Brüste des Tiresias“), sondern auch als Kunst- und Literaturtheoretiker über den Kubismus oder den Geist der modernen Poesie.

Zudem ersann er unter Pseudonym heftige erotische Romane, die heute freilich auch im Klassikerschrein der Bibliothèque de la Pléiade stehen (oder auf französisch im Netz, und zwar hier und hier). Diese pseudonym veröffentlichten, in vielen Ländern lange indizierten und erst 2010 vom Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof europaweit vom Verbot freigesprochenen und als Klassiker ausgerufenen pornografischen oder erotischen Romane sind in ihrem Fach ähnlich eklektisch und polymorph, verfasst mit augenzwinkernder Freude an der Abwechslung und am Bizarren, wie seine Feuilletons über abseitige Stadtecken oder Käuze der Boheme. Das hier zu besprechende Büchlein ist freilich ganz und gar jungendfrei.

Apollinaires letztes vollendetes Buch, „Les Flaneurs des deux rives“, erschien erstmals kurz nach seinem Tod 1919. Damals wurde es wenig beachtet. Die 1928 bei Gallimard publizierte Neuauflage seiner zu einem Flaneur-Buch überarbeiteten Stadt-Kolumnen erregte mehr Aufmerksamkeit. Walter Benjamin besprach den Band in der Frankfurter Zeitung in seinem Text „Bücher, die übersetzt werden sollten“ und ernannte in seiner Rezension von Franz Hessels „Spazieren in Berlin“ Apollinaire zum „Klassiker der Flanerie“. Nahezu 100 Jahre nach ihrer Erstpublikation in den Zeitschriften „Mercure de France“ und „Marges“ sind die von Apollinaire unter anderem auf Wunsch Jean Cocteaus überarbeiteten und zu zehn Kapiteln gefügten Ankedoten über pittoreske Orte und Persönlichkeiten der Pariser Bohème nun endlich auf deutsch erschienen.

Die meisten der beschriebenen Orte sehen längst ganz anders aus. Viele der porträtierten Künstler, Gastronomen oder Buchhändler sind nahezu vergessen. Die Neuheit seines offenen Blicks aufs Abseitige, Skurille und Exzentrische mag einem heutigen Leser – mithin nach Surrealismus, neuer Sachlichkeit, New Journalism und 100 Jahren moderner Reportagekunst – keinesfalls unmittelbar deutlich werden. Doch spürt man in den aufmerksam beobachteten und elegant fabulierten Feuilletons doch, dass hier ein urbaner Meister des Schauens, Staunens und Schreibens am Werk war. Apollinaires Büchlein ist ein Vorläufer der weit berühmteren Flaneur-Bücher der Surrealisten, etwa André Bretons „Nadja“ oder Louis Aragons „Le Paysan de Paris“. Übrigens war der nach einer Kriegsverletzung 1918 an der spanischen Grippe jung verstorbene Dichter nicht nur der Namensgeber des Surrealismus; diesen Stil-Begriff prägte er im Programmzettel zum Ballet „Parades“ und im Vorwort seines Dramas „Les Mamelles de Tirésias“. Walter Benjamin erklärte ihn darüber hinaus zum Schöpfer oder mindestens zum Propagator aller zu Apollinaires Lebzeiten entstandenen neuen Literaturtrends: „Mit Marinetti gab er, in seinen Anfängen, die Losungen des Futurismus aus, dann propagierte er Dada; die neue Malerei von Picasso bis zu Max Ernst; zuletzt den Sürrealismus“.

Es ist das hoch zu rühmende Verdienst des Übersetzers Gernot Krämer und der so kleinen wie zielsicher nach Preziosen schürfenden Friedenauer Presse, diesen Text nicht nur endlich auf deutsch vorgelegt zu haben, sondern ihn durch ein kundiges Nachwort und gründlich recherchierte Anmerkungen auch heutigen Lesern zu erschließen. In seinen Vermittlungsbemühungen erläutert Krämer zahlreiche Lebenszusammenhänge Apollinaires und viele eher unbekannte Namen. Die deutsche Ausgabe ist dabei so kühn und umsichtig, von der maßgeblichen französischen Buchpublikation (im dritten Band der Pléiade-Ausgabe der Prosaschriften Apollinaires 1993) abweichend auf die Erstpublikation im „Mercure de France“ zurückzugreifen, um dessen Bemerkungen über neue Berliner Literaturtrends (von Albert Ehrenstein über Paul Zech und andere bis zu Alfred Döblin) in den Essay über „Die Quais und die Bibliotheken“ zu integrieren. Der Herausgeber begründet dies triftig damit, dass Apollinaire diese Abschnitte beim Redigieren der Buchfassung in den letzten Monaten des Ersten Weltkriegs strich, weil Deutschland zu jener Zeit anders gesehen wurde, als bei seinem Berlin-Besuch (auf Einladung Herwarth Waldens) 1913.

Im damaligen Pariser Vorort Auteuil, heute als Teil des 16. Arrondisments von der Stadt aufgesaugt, spaziert der Dichter durch seltsame ‚Museen‘ des Städtebaus, Arsenale in denen etwa verschiedene Gaslaternen oder sich ständig wandelnde Pyramiden von Pflastersteinen versammelt sind. Eher lakonisch und auflistend als biblioman schwelgend gerät seine Liebeserklärung an schöne Bibliotheken in Paris und in Lyon, in Quimper, Nizza, Oxford und darüber hinaus in New York und Petersburg oder in der transsibirischen Eisenbahn (wobei der Dichter diese Räume und Sammlungen nicht alle selbst gesehen haben dürfte). Unüberbietbar findet er freilich einen stundenlang ausdehnbaren Spaziergang auf den Pariser Quais von der Gare d’Orsay bis zum Pont Saint Michel – wo man damals wie heute mit Blick auf den Louvre bei den Bouquinisten stöbern kann.

Doch nicht nur die Bücher, die Buchhändler und Verleger (wie der legendäre Monsieur Lehec) werden mit ihren Liebenswürdigkeiten oder Schrullen charakterisiert. Die Kaffeehäuser, Kellerrestaurants und Künstlertreffpunkte waren für die Kunst und Leben engführenden Bohemiens mindestens ebenso prägende Arbeits- und Festplätze. Einem damals berühmten Autor und Kuriositätensammler, Ernest la Jeunesse ist ein köstliches Portrait gewidmet, das diesen zum Pariser Original und zum ‚letzten Boulevardier‘ erklärte, der neben seinem kleinen Hotelzimmer zahlreiche Kneipen als Wohnzimmer und Möbellager nutze und in spezifischer Eleganz auf den Straßen flanierte und kommunizierte. Es sind nicht die heute bekannten, großen Namen (etwa Blaise Cendrars, Alfred Jarry, Pablo Picasso, Max Jacob oder Robert Delaunay) unter Apollinaires Künstler-Freunden, denen diese Anekdotenschrift ein Denkmal setzt. Es sind die Unbekannteren, die wie Ernest La Jeunesse schon damals auf der Schwelle zum Vergessen Werden standen – auch wenn sie in ihrer Zeit und an ihrem Ort Ruhm und Einfluss genossen.

Das vielleicht am wenigsten kommensurable Kapitel dieser Bummeleien versammelt schräge, teilweise frivole Weihnachtslieder, die der Autor in der Rue de Buci gehört haben will und die der tadellose Übersetzer wegen ihrer Anspielungsdichte erst gar nicht ins Deutsche zu übertragen versucht, sondern nur einige Pointen in seinen Anmerkungen erläutert. Eine willkommene, anschauliche und intermediale Ergänzung zu den Texten des Flaneurs findet man im Internet übrigens auf dem „Site Officiel Guillaume Apollinaire“, die aus dem fernen Western Illinois neben vielen anderen Materialien auch einen bebilderten, mit Werkverweisen und Stadtplan versehenen Spaziergang durch Apollinaires Paris zu bieten hat.

Wie eine gut bewahrte Flaschenpost aus der fernen Zeit der klassischen Moderne erscheinen diese kurzen Texte, die zwischen 1910 und 1918 geschrieben und am Kriegsende für die Buchpublikation ausgewählt und von Apollinaire mit Überleitungen versehen wurden. Häufig besteht ein Buchkapitel aus drei oder vier der kurzen Zeitschriften-Kolumnen, die in Frankreich als „Chroniques“ bezeichnet werden. Diese Mitteilungen aus der Hauptstadt der Künste wirken heute charmant anachronistisch – dabei jedoch keinesfalls obsolet. Sie laden ein, kleine Ausflüge durch Topografie und Sozial-Milieus einer reizvollen Epoche zu unternehmen; einer Zeit die den Übergang der als Belle-Epoque bezeichneten Jahrhundertwende in den Ersten Weltkrieg bedeutete. Die Friedenauer Presse von Katharina Wagenbach-Wolff bringt das Büchlein in der schön gestalteten, luftig gesetzten Reihe Wolffs Broschur, die wie gemacht scheint für die weiten Jacken- oder Manteltaschen eines Stadtbummlers und Kaffeehaus-Lesers.

Und diese kleinen Schilderungen und Erlebnisse machen Lust auf mehr Apollinaire. Auf einen Dichter, der in Deutschland wohl nie (oder: noch nicht) so ganz angekommen ist.

Titelbild

Guillaume Apollinaire: Flaneur in Paris. Prosastücke.
Übersetzt aus dem Französischen von Gernot Krämer.
Friedenauer Presse, Berlin 2011.
133 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783932109669

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