„Über Grenzen“ – die 61. Ausgabe der Literaturzeitschrift „Am Erker“ versammelt Geschichten, Essays und Kritiken zum vielschichtigen Thema der Transgression

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Über Grenzen“ lautet das Motto der neuen Ausgabe der Literaturzeitschrift „Am Erker“. Passend dazu wird darin die 1967 in Ostberlin geborene Schriftstellerin Jenny Erpenbeck interviewt und zu ihrer Meinung über das leidige Thema der DDR-Mauer befragt. Zuletzt hatten ja gewisse Bemerkungen der linken Politikerin Gesine Lötzsch zu hysterischen antikommunistischen Debatten geführt, die den Eindruck erzeugten, eine stinknormale, längst ‚verbürgerlichte‘ und koalitionserprobte Partei wie „Die Linke“ setze sich aus einer Horde verfassungsfeindlicher Terror-Stalinisten zusammen.

Dazu Erpenbeck: „Beinahe mechanisch wird die DDR überall mit dem Zusatz ‚Unrechtsstaat‘ versehen. Dinge komplex zu bewerten, ist eben zu jeder Zeit schwer.“ Gewiss löse man mit Mauern keine Probleme: „Aber für den Mauerbau hat es Gründe gegeben, die mit dem Faschismus und dem Kriegsende zusammenhängen, und darüber nachzudenken, wäre gerade heute interessant, wo die Mauer nun zwischen Afrika und Europa verläuft. Auch eine interessante Frage, ob es schlimmer ist, Leute einzusperren als Leute auszusperren.“ Erpenbeck wünscht sich am Ende des Gesprächs jedenfalls vor allem, das „Berlusconi verschwindet“. „Verschwinden sollte auch FRONTEX“, also jene paramilitärische Organisation, die an den Südgrenzen Europas einen unerklärten High-Tech-Krieg gegen hilflose Asylsuchende führt, ohne dass dies irgendjemanden bei uns im Alltag auch nur annähernd so sehr beschäftigen würde wie die ständigen Beschwörungen der DDR-Mauer als dem schlimmsten Verbrechen der Weltgeschichte: „Es ist doch klar, dass die afrikanischen Flüchtlinge nur deshalb ihr Leben riskieren, weil sie sich in großer existentieller Not befinden. Ich würde mir also wünschen, daß sich das Denken in Bezug auf Grenzen ändert.“

Darüber hinaus enthält das Heft einen illustrierten Beitrag Beatrix Langners über den „Universalpoeten“ einer „Ästhetik der visionären Entgrenzung“, Ulrich Holbein, einen Essay von Gerrit Confurius über „Vermeers Blick“ sowie Prosatexte von dem Schriftsteller Marcus Jensen, dem 2005 in Darmstadt verstorbenen Autor Heinrich Schirmbeck sowie den multitalentierten Literaturwissenschaftlern Gerald Funk und Kai Köhler. Funk ist übrigens zufällig Verfasser einer Dissertation über Schirmbeck (erschienen 1997) und arbeitet seit vielen Jahren in der Marburger Georg-Büchner-Forschungsstelle, während sich Köhler vor kurzem an der Philipps-Universität habilitierte und gleichzeitig seit Jahren als Dozent im koreanischen Seoul wirkt.

Grenzüberschreitungen also auch hier: Es gibt tatsächlich Germanisten, die literarische Texte verfassen – und nicht zuletzt solche, welche fern des ‚Brunnquells deutschen Geistes‘ arbeiten, um das Schlagwort der ‚Interkulturalität‘ nicht nur als modische Phrase zu verstehen, sondern diese auch zu leben.

Georg D. Henn

Anmerkung der Redaktion: literaturkritik.de rezensiert grundsätzlich nicht die Bücher von regelmäßigen Mitarbeiter / innen der Zeitschrift sowie Angehörigen der Universität Marburg. Deren Publikationen können hier jedoch gesondert vorgestellt werden.

Titelbild

Am Erker 61. Über Grenzen.
Daedalus Verlag, Münster 2011.
160 Seiten, 9,00 EUR.
ISBN-13: 9783891265611

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