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Nach mehr als 60 Jahren erscheint Maurice Blanchots monströser Roman „Der Allerhöchste“ endlich in deutscher Übersetzung

Von Isabel FischerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Isabel Fischer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Ich bin eine Falle für Sie. Selbst, wenn ich Ihnen alles sagte, würde ich sie bei aller Aufrichtigkeit nur täuschen“, heißt es in Maurice Blanchots ungewöhnlichem Roman der „Allerhöchste“, bevor die eigentliche Handlung beginnt. Eine Falle ist aber nicht nur der Protagonist Hernri Sorge, der diesen Satz zu seinem Nachbarn, dem Untergrundkämpfer Boux, spricht, sondern auch der Roman selbst. Der Leser folgt dem Ich-Erzähler auf seiner Reise zwischen Fiktion und Wahrheit, Wahnsinn und Realität, nicht ohne dabei ins Schleudern zu geraten.

Ebenso wie Zeit und Raum löst sich die zunächst klare Handlung im Verlauf des Romans immer mehr auf: Henri Sorge, der seinem Namen alle Ehre macht, ist treuer Angestellter im Dienste eines totalitären Staates, ein großer Kranker und Chronist seiner eigenen Geschichte. Bislang strenger Verteidiger von Staat und Gesetz, der weder die Unruhen noch die Ausbreitung einer mysteriösen Seuche in seiner Umgebung wahrnehmen will, kommt er eines Tages in Kontakt mit dem Anführer einer Untergrundgruppe und sein Weltbild gerät ins Wanken. Die Aufständischen versuchen ihn für ihre Sache – die Unterwanderung des Staates – zu gewinnen. Sorges Bemühen sie von der Sinnlosigkeit ihres Vorhabens zu überzeugen, wandelt sich zunehmend in eine allgemeine Skepsis gegenüber dem Staat wie auch der Untergrundgruppe.

Das Unbehagen breitet sich in dem Protagonisten aus wie die rätselhafte Epidemie im Staat. Während „draußen“ ganze Straßenzüge brennen, Polizeigewalt regiert und immer mehr Häuser evakuiert oder – wie Sorges Wohnung – zu Heilanstalten umfunktioniert werden, wendet sich Blanchot mehr dem privaten Desaster des Protagonisten zu. Mit fortschreitender Skepsis und Krankheit beginnt Sorge seine Gedanken zu protokollieren. Nicht zufällig führen seine Schreibversuche immer wieder in Wahnsinnsanfälle, verschachteln sich die Ebenen der Erzählung. Die Welt um ihn beginnt sich ebenso aufzulösen wie die Handlung und die Schreibweise des Romans. Charaktere verschmelzen, seine Schwester verbindet sich mit der Krankenschwester, der Anführer der Untergrundgruppe beginnt seinem Vater wie auch seinem Arzt zu gleichen und Sorge selbst mutiert zu einem unbestimmten Kollektivkörper, der sich mal in diesem, mal in jenem Charakter wiederfindet: „Ich war nicht allein, ich war ein beliebiger Mensch. Wie sollte ich diese Formel vergessen.“

Blanchot inszeniert den Kontrollverlust des Protagonisten in virtuoser Weise als Verselbstständigung der Sprache. Da der Autor zunehmend auf Kennzeichnungen einer indirekten Rede verzichtet, weiß der Leser oft nicht mehr, wer in den Dialogen wann spricht. Gleichzeitig erreicht die Kunst fragmentarischen Erzählens ihren Höhepunkt in einer literarischen Entsprechung des Filmrisses und des Jumpcuts der Nouvelle Vague. Der Roman wird zu einer monströsen Montage, zu einem Sampling aus Episoden, Zeitsprüngen und Personenfragmenten. Gerade hier gerät der Roman zur äußersten Herausforderung des Lesers und gleichermaßen zum einem der faszinierendsten Sprachkunstwerke der französischen Nachkriegsliteratur.

Der Wortrausch, in den man dem Protagonisten zunehmend folgt, lässt die Figuren ihre Körper verlieren, während die Worte selbst eine körperliche Präsenz erlangen. So werden die Figuren im wahrsten Sinne des Wortes zu Büchern: Boux, der Anfüher der Aufständischen wird „als veraltetes, undatiertes Buch“ beschrieben und das Schnarchen von Sorges Vater erscheint als „papiernes Wort“: „Gegen Abend öffnete ich vorsichtig die Tür und lauschte auf ein seltsames Geräusch, ein Flüstern, ein papierenes Wort, das zerknüllt und dann vorsichtig zerrissen wurde. […] Auf einmal zog sich ein Riss durch das Geräusch, und ich erblickte einen leicht geöffneten Mund und Augen, die ebenfalls halb offen waren“.

All das lässt vermuten, dass es Blanchot (1907-2003) hierbei um weitaus mehr geht als einen weiteren modernetypischen Roman über Wahnsinn, Totalitarismus und Identitätsverlust zu schreiben. Der Autor reflektiert in „Der Allerhöchste“ literaturtheoretisch das Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit und erschafft so einen Text, der Roman und Metaroman in einem ist.

Die Funktion des Schreibens wird zum eigentlichen Thema, wenn sich Sorges Welterschließung einzig im Protokollieren seiner eigenen Geschichte ereignet. Am Ende des Romans steht der Leser wieder am Anfang: „Nun ist es soweit, ich spreche“.

Lässt man sich auf dieses literarische Spiel mit der Sprache ein, so verfolgt man die Synästhesien und Anamorphismen gespannt und fasziniert: „Diese Ausdünstung kam langsam näher, ich bemerkte sie auf dem Sofa, auf meinem Ärmel, dann zog sie sich zurück. […] Ich konnte sie spüren, doch so tief ich die Luft auch einsog, sie kam nicht näher, sondern beobachtete mich gleichsam, auf einen einzigen Punkt zusammengedrängt, sie lauerte mir auf, so wie es nur Gerüche vermögen, auf heimtückische und niederträchtige Weise.“

Vielleicht ist es nicht verfehlt, in Blanchots „Der Allerhöchste“ einen Beitrag und Einspruch zum Nachkriegsdiskurs der Résistance zu vernehmen. Nicht zuletzt wird die Seuche bei Blanchot, ebenso wie in Albert Camus’ „Die Pest“, dem großen Roman der Résistance, zum Zentrum der Auseinandersetzung mit dem totalitärem Staat, Masse und Identität. Steht jedoch in Camus’ zeitgleich erschienenem Roman am Ende das ethische Subjekt, das sich gegen die Widrigkeiten des Schicksals aufrichtet, so wird gerade dieses bei Blanchot innerhalb des Schreibens unsicher. Hier verflüchtigt es sich, dort wird es vervielfacht. Gerade diese kritische Wendung lässt den Roman „Der Allerhöchste“ vor dem Hintergrund der hochaktuellen Debatte um Biopolitik, Subjektivierungs- und Immunisierungstechniken äußert zeitgemäß erscheinen.

Insbesondere mit der Problematisierung der Identität nimmt Blanchot zentrale Probleme poststruktualistischer Theorien vorweg, wie sie später von Jacques Derrida, Gilles Deleuze oder Michel Foucault ausgearbeitet werden. Umso verwundernswerter ist es, dass dieser bedeutende Roman erst mehr als 60 Jahre nach seinem Erscheinen ins Deutsche übersetzt wurde. Dies dürfte nicht zuletzt mit dem Ruf des Hermetischen und Unverständlichen zusammenhängen, der dem Autor vorauseilt.

Dabei finden in Deutschland hauptsächlich seine philosophischen Werke wie „Die uneingestehbare Gemeinschaft“ oder „Die Schrift des Desasters“ eine Leserschaft. Dass Blanchot in seiner frühen Phase vor allem als Prosaschriftsteller tätig war, ist den meisten Lesern seiner theoretischen Werke unklar. Hier liegt auch der Grund für die regelmäßige Einschätzung des französische Autors als Grenzgänger. Seine philosophische Werke werden als zu literarisch und seine Literatur als zu philosophisch wahrgenommen. Dabei ist es eben dieses Schwellendasein, was den Charme und die originäre Stellung seiner Werke ausmacht, nicht zuletzt und im Besonderen gerade diesen letzten Romans „Der Allerhöchste“ von 1948.

Durch die erstmalige Veröffentlichung in deutscher Sprache haben sich die Übersetzerin Nathalie Mälzer-Semlinger und der Matthes & Seitz Verlag einer schon lange überfälligen und verdienstvollen Aufgabe angenommen. Nachdem Blanchot jahrelang fast ausschließlich von Philosophen und als Philosoph wahrgenommen wurde, gilt es nun in ihm den literarischen Autor zu entdecken. Schließlich hat der Roman mit seiner bedrohlichen Handlung und seiner expressiven Sprache weitaus mehr zu bieten als langweilige Schulphilosophie.

Titelbild

Maurice Blanchot: Der Allerhöchste. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Nathalie Mälzer-Semlinger.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
410 Seiten, 24,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216271

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