Generationengeheimnissen auf der Spur

Sabine Bode präsentiert neue Lebensläufe, diesmal von „Nachkriegskindern“

Von Clarissa HöschelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Clarissa Höschel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit „Nachkriegskinder“ legt Sabine Bode bereits das dritte ‚Generationenbuch’ zu einem bisher kaum im kollektiven Bewusstsein verankerten Thema vor: Dem Einfluss des Zweiten Weltkrieges auf unsere Gesellschaft. Das mag im neuen Jahrtausend auf den ersten Blick etwas weit hergeholt erscheinen, ist es aber ganz und gar nicht, wenn man nur ein kleines bisschen rechnet: Die „Kriegskinder“ – die während des Krieges Geborenen, von denen Bodes erstes Buch handelt – sind die Rentner von heute und die Eltern der zwischen 1960 und 1975 geborenen „Kriegsenkel“, denen sich Bode in ihrem zweiten Buch widmet.

Die Generation dazwischen, die 1950er-Jahrgänge, ist die der „Nachkriegskinder“, die jetzt, wenige Jahre vor Erreichen des Rentenalters, beginnt, Bilanz zu ziehen und verwundert feststellt, dass die eigene Vergangenheit umso präsenter ist, je älter man wird, oder, anders gesagt, dass die eigene Kindheit und Jugend umso wichtiger wird, je weiter sie zurückliegt.

Doch um was geht es bei Bode eigentlich genau? Es geht im engeren und weiteren Sinne um das, was wir heute so selbstverständlich-oberflächlich als „Kriegstraumata“ abhandeln – um das, was das Erlebnis des Krieges mit einem Menschen macht und darum, wie sich diese Kriegserlebnisse in der Folgezeit auswirken – auf die Betroffenen selbst, auf deren Familien und, wenn die Anzahl der primär und sekundär Betroffenen groß genug ist, auch auf die gesamte Gesellschaft.

Wenn wir heute mit mehr oder weniger echtem Mitgefühl von Einzelschicksalen traumatisierter Soldaten hören, denken wir kaum daran, dass dieses Schicksal im Ersten und Zweiten Weltkrieg ganze Soldatengenerationen betroffen hat, und dass diese Generationen traumatisierter Soldaten, so sie denn Krieg und Gefangenschaft überlebt haben, zurückgekehrt sind in eine Nachkriegszeit, die sie weder mit einer funktionierenden Infrastruktur noch mit geschulten Psychologen erwartet hat, sondern die im Gegenteil keine Zeit ließ für Aufarbeitung (ganz abgesehen davon, dass dieser Begriff gar nicht existierte), sondern die die eben Heimgekehrten für Wiederaufbau und Familienerhalt benötigte. Besonders nach dem Zweiten Weltkrieg hat das sogenannte Wirtschaftswunder zum einen keine Zeit zum Nachdenken gelassen und zum anderen auch alle Energien in der kollektiven Euphorie eines wiedererstarkenden Deutschlands gebündelt, in dem seelische Wunden unter einem wie von selbst wachsenden Wohlstandsteppich verborgen wurden. Stattdessen wurden Häuser gebaut, Kinder gezeugt und Bäume gepflanzt; die Illusion der heilen Welt wurde am Wochenende in Heimat- und Liebesfilmen illustriert und es wurden Kinder erzogen, die es „einmal besser haben sollten“; die kleine Welt der Familie war über Jahrzehnte das Refugium der seelisch Verwundeten.

Die Kinder mögen sich zuweilen gewundert haben, wenn bei Tisch aufgegessen werden musste, wenn Reste jeder Art verwertet wurden, wenn in einer Unterhaltung plötzlich Stille eintrat, weil ein Tabu-Thema berührt wurde, oder wenn ein Elternteil, für die Kinder nicht nachvollziehbar, mit einem Mal über die Maßen heftig reagierte – auf eine Szene im Fernsehen, auf ein Geräusch, auf einen Ausspruch. Kinder bemerkten auch ohne Worte, dass es eine deutliche Diskrepanz zwischen älteren und jüngeren Eltern gab – die einen auffallend konservativ, die anderen auffallend liberal, zuweilen bis zu dem Extrem, dass in einer Klasse Opfer der Schwarzen Pädagogik und der Antiautoritären Erziehung direkt nebeneinander saßen und doch durch Welten getrennt waren.

Dies alles beschreiben Betroffene implizit oder explizit in den Lebensgeschichten, die Bode zusammen getragen hat. Mit ihren inzwischen drei Büchern hat die Autorin eine Lücke geschlossen und eine gesellschaftliche Konstante thematisiert, die bis heute einen nicht zu unterschätzenden Charakterzug der deutschen Gesellschaft darstellt. Dass es so lange gedauert hat, diese verdeckte Problematik ans Licht zu holen, liegt zum Teil an der Natur dieses Phänomens selbst, das sich gerade durch das Nicht-Thematisieren auszeichnet. Dennoch sind seine Auswirkungen bis heute spürbar.

Betroffene erzählen, vor allem von ihren Vätern – sie tun es dankenswerterweise oft in Ich-Form, sodass man über den Umweg des Buches Menschen zuhören kann, denen man im wirklichen Leben wahrscheinlich nie begegnet wäre. Das, was sie erzählen, berührt und erinnert an der einen oder anderen Stelle an die eigene Geschichte – wer sich hier wiederfindet, wird aber in vielen Fällen mehr wissen und sich vor allem austauschen wollen, über die Grenzen des Buches hinaus. Was das Buch leisten kann, ist, eine solche erste Erfahrung des Wiedererkennens zu ermöglichen und dadurch den Anstoß zu geben, sich vielleicht zum ersten Mal mit der eigenen Familiengeschichte unter einem ganz bestimmten Aspekt – der Vorgeschichte der Eltern – zu befassen. Das ist gut so. Und antwortet zudem einem wachsenden Bedürfnis, das sich allein schon aus dem Alter der Nachkriegskinder ergibt – nach der Lebensmitte werden Altlasten nur allzu oft beschwerlich.

Mehr als ein Einstieg in das Thema kann das Buch allerdings nicht sein – es bleibt umso mehr Antworten schuldig, je tiefgründiger die Fragen sind, die man formuliert. Zudem handelt es sich um ein kollektives Phänomen, das zwar als solches beschrieben werden kann, das aber gleichzeitig so viele unterschiedliche Ausprägungen kennt wie betroffene Individuen und Familien. Hinzu kommt die Fokussierung des Bandes auf die Väter, die, als „Soldatenväter“, per definitionem unter Generalverdacht stehen, Täter und Profiteure der NS-Zeit gewesen zu sein – ein Verdacht, den diese Vätergeneration durch das ihr sehr eigene Schweigen noch erhärtet. Leider verengen Zusammenstellung und Kommentierung der Beiträge die Sicht auf die zentrale Frage nach „Nazi oder nicht?“ und man könnte den Eindruck gewinnen, dass der gesamte Familienfrieden im Nachhinein wieder hergestellt wird, wenn sich herausstellt, dass Papa nicht zu den bislang enttarnten Tätern der NS-Zeit gehört. Doch so einfach ist es leider nicht – zum einen, weil die allermeisten der Soldatenväter in erster Linie selbst Opfer ihrer Zeit waren, und zum anderen, weil eine Familie ein komplexes System von Wechselwirkungen ist und weil deshalb die Leitfrage des vorliegenden Buches zu kurz greift: Natürlich sind es die Väter, die schweigsam und physisch und emotional abwesend waren – aber es sind auch die Mütter, die sie haben abwesend sein lassen und die vielleicht sogar, denn auch das war nicht selten, aus der übermächtigen Sehnsucht nach einer heilen (Familien-)Welt heraus, eine eingeschworene Gemeinschaft mit den Kindern gebildet haben, aus der der Vater emotional ausgeschlossen war – de facto Alleinerziehende, die den Kindern die Beziehung zum Vater vorenthalten haben, weil sie selbst keine emotionale Beziehung zu ihm aufbauen konnten. Der Vater blieb Ernährer, Versorger und funktionierendes Familienoberhaupt – die emotionalen Bindungen fanden allerdings über weite Strecken ohne ihn statt, und das wiederum ist das traurige Verdienst der Ehefrauen der hier porträtierten Soldatenväter.

Titelbild

Sabine Bode: Nachkriegskinder. Die 1950er Jahrgänge und ihre Soldatenväter.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2011.
302 Seiten, 19,95 EUR.
ISBN-13: 9783608946789

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