Saulus und Paulus

Elliot Y. Neamans Studie über Ernst Jünger und die post-faschistische Literaturpolitik

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Gegner Ernst Jüngers (1895 - 1998) meinen, er werde nur deshalb als bedeutender Autor gehandelt, weil er so alt geworden sei - so alt wie sein Jahrhundert und ein paar Jahre darüber hinaus. Das Argument hat etwas für sich: Eine Autorschaft, die 1920 begann und sich über acht Jahrzehnte erstreckte, die durch Jüngers politische Publizistik, das Tagebuch und den Essay eng mit Zeitgeschichte korreliert war, kann allein aufgrund dieser Zeitgenossenschaft bedeutend sein.

Der amerikanische Literaturwissenschaftler Elliot Yale Neaman, geboren 1957, hat sich vorgenommen, das publizistische Echo dieser Zeitgenossenschaft nach 1945 zu untersuchen. Seine Studie liest sich über weite Strecken wie eine intellektuelle Biographie der Bundesrepublik am Leitfaden Ernst Jüngers. Neaman kann zeigen, dass alle wesentlichen Rezeptionslinien des Jüngerschen Œuvres bereits Ende der vierziger, Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts vorgezeichnet sind. Die Apologeten sind 1949 durch Gerhard Nebel vertreten, die entschiedene Gegnerschaft wird 1950 durch Max Bense und 1953 durch Peter de Mendelssohn formuliert. Früh auch manifestiert sich die Frage, ob Jünger eine nihilistische oder eine christliche Weltsanschauung propagiere. Für beide Ansichten werden schon in den fünfziger Jahren Argumente geliefert. Hans-Rudolf Müller-Schwefe glaubt in seiner 1951 erschienenen Monographie fest an Jüngers Rückkehr zu einem religiös-spirituell geprägten Humanismus. Rainer Gruenter leistet bereits 1952 den Transfer von Jüngers Individualismus und Solipsismus zum Nihilismus und Dandyismus der europäischen Moderne, eine Leistung, die von Karlheinz Bohrer in den siebziger Jahren aufgegriffen und folgenreich weitergeführt wird. Selbst die Aporien des Jüngerschen Denkens, die Fluchtbewegungen des "Anarchen", die nur scheinbar in Freiheit und Individualität führen, tatsächlich aber in Gefangenschaft und Selbstverlust, sind bereits Anfang der fünfziger Jahre von Ernst Niekisch dargestellt worden.

Jünger erfuhr Zuspruch und Ablehnung quer durch die Reihen. Konservative Kritiker attestierten ihm einen unbefangenen Blick auf die negativen Aspekte der modernen Zivilisation, liberale Kritiker argumentierten, seine Schrift "Der Friede" markiere einen humanistischen Wendepunkt in der orientierungslosen, nihilistischen Nachkriegszeit. Wo steht da der Verfasser dieser Studie, Elliot Neaman? Neaman ist weder ein Anhänger noch ein Gegner Jüngers. Er bezieht zwischen denen, die Jünger verteidigen, im festen Glauben, er sei ein entschiedener Gegner des nationalsozialistischen Regimes gewesen, und denen, die Jünger anklagen, er habe den Faschismus intellektuell salongfähig gemacht, eine dritte Position. Neaman sieht durchaus Jüngers Courage, seine Integrität, seinen Nonkonformismus. Er glaubt aber auch, dass Jünger in seinem literarischen Werk - wobei literarisch hier auch die philosophische und politische Essayistik mit einbezieht - ein Vordenker totalitären Denkens gewesen sei. Die berühmte Formel von der "totalen Mobilmachung", die von Goebbels zu einem "Nazi-Slogan" gemacht worden sei, ist dafür nur ein Beispiel.

Im übrigen folgt Neaman den bereits um 1950 festgelegten Leitlinien der Jünger-Rezeption. Den Jünger der zwanziger Jahre beschreibt Neaman als Dandy und Flaneur, zu elitär, um Parteigänger der Nazis werden zu können. Seinen Stil beschreibt er als "aseptisch" und surrealistisch beeinflusst. In der Rezeption seines Essays "Der Arbeiter" (1932) dominieren bald jene Stimmen, die Jünger als "Nationalbolschewisten" einstufen würden. Neaman schätzt das Buch als "proto-faschistisch" ein, als "rechts-hegelianische", "anti-materialistische" und "intellektuell faschistische" Kritik am Marxismus. Am Beispiel der Novelle "Auf den Marmor-Klippen" (1939) zeigt Neaman, dass Jüngers Verhältnis zu den Nazis durch Begriffe wie Affirmation oder Opposition kaum angemessen definiert werden kann, eher schon durch den Begriff der Ambiguität, der "Ambiguität seines Widerstandes" zumal, der eine Faszination gegenüber gestanden sei. Einwände gegen Jüngers Ästhetizismus weiß Neaman geschickt zu kontern, zum Beispiel den Vorwurf, Jünger habe sich in den "Strahlungen" an einem Bomber-Angriff auf Paris delektiert. Neaman zitiert zum Vergleich Augenzeugenberichte aus London und will damit zeigen, dass es nicht unbedingt Zynismus ist, wenn Passanten fasziniert ein Bombardement ihrer Stadt beobachten und dabei ihr Leben riskieren.

Neaman geht es vor allem um die Darstellung der Jünger-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg. Dazu muss er ein Bild der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft entwerfen, und er zeichnet ein Bild, das weithin stimmig, aber hier und da auch von einer recht haltlosen Empirie geprägt ist. So behauptet er, Jüngers Wohnort und die Gegend um Stuttgart seien nach dem Zweiten Weltkrieg ein Zentrum des traditionellen deutschen Konservatismus gewesen, und er macht dies fest an Personen wie Martin Heidegger, Ernst Klett, Friedrich Sieburg und Jüngers Bruder Friedrich Georg, die alle in diesem Teil Südwestdeutschlands gelebt hätten: "A large number of ex-military figures and followers of the Conservative Revolution eventually settled in the area around Stuttgart." Wenig überzeugend ist auch Neamans These, dass Jünger mit seinen späten Tagebüchern "Siebzig verweht" in eine Phase der zweiten Inneren Emigration eingetreten sei und weiter von politischen Fragen der Bundesrepublik Abstand genommen habe. Das ist eher ein Bild, wie es Jünger von sich vermitteln wollte, doch das Studium der Tagebücher gibt eine so weitreichende These nicht her.

Neamans Fokussierung auf den "Nachkriegsjünger" schließt die Rezeption des "Vorkriegsjüngers" mit ein. Die politische Publizistik des Wehrmachtsveteranen in den frühen zwanziger Jahren wird ebenso thematisiert wie seine Wendung zum "heroischen Realismus" Mitte/Ende des Jahrzehnts. In der Darstellung eines Avantgarde-Autors, der auch surrealistische und expressionistische Merkmale in seinem Werk aufweist, folgt Neaman den Ausführungen Bohrers. Die Rezeption des Romans "Auf den Marmor-Klippen" hat das Jünger-Bild vielleicht am stärksten geprägt. Von Teilen des intellektuellen Widerstands als Parabel auf die Schrecken des Hitler-Regimes gelesen, wurde es von Jünger als literarisches Werk sui generis, das heißt ohne eingeschriebene geheime Botschaft an regimekritische Leser deklariert. Dieses Buch, sein kruder Manierismus und seine bemühte Stilisierung, seine Dunkelheit und opake Bildlichkeit, ist wenigstens ebenso umstritten wie das frühe Kriegstagebuch "In Stahlgewittern" (1920). Jüngers Schrift "Der Friede" (begonnen Anfang der 40-er Jahre, Erstdruck 1949) markiert für viele Leser Jüngers "humanistische Wende", doch schlüssiger erscheint Karl Corinos These, der zufolge Jüngers politische Haltungen immer "suspekt" und "inkonsistent" gewesen sind. Die Missverständnisse von beiden Seiten, Jünger-Gegnern wie Jünger-Freunden, sind fester Bestandteil der Rezeption und sagen über das intellektuelle Deutschland seit Beginn der zwanziger Jahre eine Menge aus.

Für die Zeit nach Ende des Zweiten Weltkriegs dokumentiert Neaman die Debatte um die Vertreter der "Inneren Emigration", denen auch Jünger zugerechnet wird. Emigranten und "innere Emigranten" standen zeitweise in heftigem Streit, wer die moralisch höherwertige Position vertreten habe. Am Beispiel Thomas Manns und Ernst Jüngers lässt sich gut die Unvereinbarkeit, Unvergleichbarkeit und Unversöhnlichkeit beider Positionen darstellen. Jünger hält Thomas Mann vor, er hätte eher das Schicksal von Ernst Niekisch wählen und sich inhaftieren lassen sollen, als Deutschland den Rücken zu kehren.

Neaman wertet vor allem Autobiographien, Biographien und Briefwechsel von Zeitzeugen aus; darüber hinaus Interviews, Portraits, Rezensionen, Zeitschriftenbeiträge, die sich mit dem Phänomen Jünger befassen; das partiell positive Echo nach 1945 führt er im wesentlichen auf Stimmen aus dem konservativen Lager zurück. Für seine amerikanischen Leser dürfte aber nicht unbedingt klar werden, dass Stimmen wie Heinrich Böll, Bernt Engelmann, Helmut Heissenbüttel oder Michael Rutschky keineswegs "among conservatives, theologians, and religious writers" zu finden sind; Alfred Andersch, Hans Magnus Enzensberger, Erich Fried werden hingegen recht deutlich der "linken" Intelligenz zugeordnet. Figuren wie Karl Heinz Bohrer, den Neaman als "Philosophen" klassifiziert, machen deutlich, wie problematisch diese Aufteilung der ideologischen Welt ist. Das Manko der Studie wiegt umso schwerer, als sich schon anhand der großen Ideologiedebatten der zwanziger und dreißiger Jahre (Stichworte "National-Sozialismus" und "National-Bolschewismus") die Schwierigkeit herausgestellt hat, Jünger weltanschaulich zu verorten.

Der "Historikerstreit", der in den achtziger Jahren erneut die Frage nach den ideologischen Wurzeln des Nationalsozialismus gestellt hat, ist für Neaman erneut ein Prüfstein für Jüngers politisch-gesellschaftliche Autorschaft im Nachkriegsdeutschland. Nur klafft zwischen seiner Darstellung der Adenauer-Ära und der Kohl-Ära die Ära der Großen und der sozial-liberalen Koalition, in der, was Neaman übersieht, eine nicht minder heftige Debatte über die Wurzeln des nationalen Sozialismus geführt wurde, mit einer sehr breiten Beteiligung gesellschaftlicher Kräfte, nicht nur von Historikern, sondern auch von Politikern unterschiedlichster Couleur.

Neamans Arbeitsweise und seine Fragestellung führen dazu, dass er sich meist weit von Jüngers Texten entfernt und sie mitunter entstellend interpretiert. So behauptet er, Jünger sei 1945 von einem amerikanischen Besatzungssoldaten mit der Waffe bedroht worden, als er im Garten zu tun hatte. Liest man die entsprechende Stelle einmal nach, so ergibt sich ein völlig anderes Bild. Neamans Interpretationen sind durchwachsen, mitunter anspruchslos oder falsch, sein Textbegriff erscheint bisweilen obsolet. So liest er politische Parabeln wie "Auf den Marmor-Klippen" als Zeitdokument und sucht für sie nach Entsprechungen in der außerliterarischen Wirklichkeit. Das Vorbild für Jüngers Figur des "Oberförsters" beispielsweise `entdeckt´ er in der Autobiografie Carl Zuckmayers, alle anderen Charaktere interpretiert er als verschiedene Aspekte der Person des Autors selbst. Am Beispiel der "Marmor-Klippen", so hat er sich vorgenommen, möchte er die Charakteristika eines "faschistischen Stils" herausarbeiten. Das Ziel freilich bleibt auf der Strecke: Jüngers "Kitsch" ist nicht Ausdruck einer bestimmten Weltanschauung, monumentaler Kitsch ist in dieser Zeit ein alle Ideologien übergreifendes Merkmal. Nicht nur die Nazis und ihnen nahestehende Autoren verbreiten Schwulst in Bildlichkeit und Setting, sondern auch Autoren der Inneren Emigration und des Sozialistischen Realismus.

Für den englischsprachigen Raum ist Neamans Studie insgesamt eine gute Synthese dessen, was sich heute über Jünger sagen lässt. Das ist entmutigend wenig. Wertvoll sind seine kurzen biographischen Exkurse zu Personen aus dem Jünger-Kreis. Seine Darstellung von Leben und Funktion und Weltanschauung des ersten Jünger-Biografen Karl O. Paetel (1906 - 1975), des Übersetzers Henri Plard oder von Hans Peter des Coudres, Jüngers "Eckermann", sind nützlich. Andere Kapitel, zu Gottfried Benn und Friedrich Sieburg, sind zu stark ausgewalzt und führen, von einzelnen Beobachtungen abgesehen, nicht wirklich zu Jünger hin. Sehr viel Raum nimmt auch die Verleihung des Frankfurter Goethe-Preises an Ernst Jünger ein. Zu dieser Zeit - 1982 - ist die Regierung Kohl angetreten, das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Vergangenheit zu normalisieren. Der Frankfurter Literaturstreit zeigt, dass dies nicht gelingen kann und dass Ernst Jünger nicht das geeignete Medium ist, diese Normalität unter Beweis zu stellen.

Interpretatorisch hat Neaman zu Ernst Jüngers wenig Neues beizutragen, es ist aber auch nicht Ziel dieser Arbeit, der Jünger-Philologie neue Impulse zu geben, wie sie seinerzeit von Karlheinz Bohrers "Ästhetik des Schreckens" (1978) ausgegangen sind. Ärgerlich sind die zahlreichen falsch geschriebenen Eigennamen und Buchtitel, die irreführenden Quellen- und Seitenangaben, die fehlenden Indexeinträge und die unvollständige Bibliographie.

Titelbild

Neaman Y. Elliot: A Dubious Past. Ernst Jünger and the Politics of Literature after Nazism.
University of California Press, London 2000.
316 Seiten, 46,00 EUR.
ISBN-10: 0520216288

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch