Von einer, die ausbrach, das Leben zu lernen

In Katja Oskamps Roman „Hellersdorfer Perle“ findet eine Frau in der Plattenbauperipherie ihre Erfüllung

Von Sonja KerstenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sonja Kersten

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Frau hat genug. Genug vom treuliebenden Ehemann, von ihrer stuckverzierten Berlin-Weißensee-Wohnung und der Ödnis des biederen Familienidylls, genug von edelstählerner Nudelmaschine und Ostseeurlaub. „Es hat mich angekotzt“, resümiert eine Ich-Erzählerin unvermittelt, während sie die gepackten Koffer in die Türe ihrer besten Prenzlauer-Berg-Freundin bugsiert. Es ist ein Ausbruch, vielleicht nur ein vorübergehender, oder vielmehr ein Ausbruch auf Raten, der die frustrierte Namenlose noch in derselben Novembernacht weitertreibt: In die Straßenleere der Hauptstadt und via Elektrischer Richtung Endstation, in die betongraue Plattenbausiedlung Hellersdorf.

In Katja Oskamps drittem literarischen Werk „Hellersdorfer Perle“ geht alles ganz schnell. Man kennt das: keine Umwege, keine Schnörkel, keine unnötigen Sentimentalitäten. Man schätzt das: die puristisch ungeschönte Sprache, mit der die Autorin schon ihre Protagonistinnen im Debüt „Halbschwimmer“ (2003) und dem Roman „Die Staubfängerin“ (2007) erzählen ließ: nüchtern, gradlinig, pur. Da wundert es nicht, dass sich die ziellos Treibende der „Hellersdorfer Perle“ ohne große Umschweife nur kurze Zeit später vor einem unförmigen Flachbau – dem Namensgeber des Romans – wiederfindet. Eine Spelunke, wie sie im Buche steht, mitsamt Kneipeninsassen: drei beinlose Kartenspieler, eine runzelige Omi, eine ex-prostituierte Barlady und eine männliche Fleischwerdung spießbürgerlicher Wolllust – ein abermals namenloser, doch nicht minder markanter Greis, graubärtig, mit Bauarbeiterhänden, Hörgerät, Gehstock und einer Aura, die bewirkt, dass die Ich-Erzählerin ihm keinen Wunsch abschlagen kann. „Morgen abend um elf“, lautet die Anweisung, die mit aller Rauheit ihr Leben verändern soll. „Ziehen Sie bitte einen Rock an“. Dem Rock folgen ohne Widerrede Stiefel, Strümpfe, ein schwarzes Korsett – eben die „volle Hurenmontur“ – und schließlich der Ehebruch (gleich einer sexuellen Befreiung aus aller Mittelmäßigkeit) mit sadomasochistischen Fesselspielchen auf Marmorimitat im obersten Geschoss einer Platte.

Im Schoß der Familie, in den die Ich-Erzählerin nach ihren Ausbrüchen immer wieder zurückkehrt, herrscht derweil Stillstand. Ihr Mann Micha resigniert, Töchterchen Paula will Schmusekätzchen spielen und Busenfreundin Tina, ein Seifenopernsternchen, versucht mit schalen Ratschlägen tränenreich und doch vergeblich, die Abtrünnige zur Raison zu bringen. Es beginnt ein bizarrer Tanz zwischen den Welten, deren einzige Verbindung die Gleise der Straßenbahnlinie sechs bilden: hier ist sie gelähmt in einem ehelichen Nest aus Langeweile und Gewohnheit, dort Protagonistin in einem Abenteuer aus Lust und Verlangen, zu Hause fügt sie sich den Regieanweisungen manierlichen Verhaltens, im Hellersdorfer Hochhaus geben ihr Handschellen und Hiebe die Freiheit zu derb-schmutzigen Fantasien.

So ist sie tags die personifizierte Rührseligkeit einer liebenden Mutti, nachts die leidenschaftliche Spielgefährtin eines lüsternen Alten – ein Antipodenspiel, das sich auch auf die Partner projizieren lässt. Der Alte ist dramenschreibender Literat, Micha ein Theaterkritiker, dieser der eigenwillige Künstler, jener – so besehen – sein bloßer Rezipient. Eben diese Wesensmerkmale spiegeln sich auch in den jeweiligen Beziehungen wider: während die namenlose Affäre ihr Leben in Bewegung bringt, sieht Micha (wortlos im Zustand verharrend) dem Verfall seiner Ehe entgegen. Überhaupt dominiert zwischen den Verheirateten das Schweigen – ein erneuter Gegensatz zum Hellersdorfer Glück: Hier kann sie reden. Über Lebensträume, über Liebe, Vergangenes, Gegenwärtiges, die Zukunft.

Es wäre jedoch zu einfach, Welt und Gegenwelt, Schwarz und Weiß nach schlichtem Gut-Schlecht-Prinzip einander gegenüber zu stellen und darin allein Erklärungen zu suchen. Der lebensweltliche Kontrast ist in sich komplexer. Ihn vergegenwärtigend kristallisiert sich das Handlungsmotiv der Erzählerin erst in aller Deutlichkeit heraus. Steht auf der einen Seite zwar das Mittelständische, so ist es nicht einzig die Tristesse der Plattenbauperipherie, die der Protagonistin – selbst in einem Ost-Berliner Hochhaus groß geworden – plötzlich ihre Lebenserfüllung offenbart. Der Alte verkärkert eine weit größere Paradoxie und erst sie macht seine Anziehungskraft aus: „Er ließ die Mitte aus. Er machte einen großen Bogen um alles Durchschnittliche. Er hielt sich ganz unten auf, bei den Proletariern, in der Armut, oder ganz oben, beim Adel, in der Dekadenz. Wohnte im Plattenbau und leistete sich einen Chauffeur. Hockte am Tresen einer Ex-Nutte, wo das Bier eins fünfzig kostete, und gab einem Kellner, der die Diskretion erfunden hatte, dreißig Euro Trinkgeld. […] Niemals war der Mann dort anzutreffen, wohin all die Tinas […] und Michas strebten, um sich zu drängeln: im Konsens, im Kompromiss, im Zentrum des Zeitgeistes. In der Mitte der Stadt.“ Genau dort hält die Erzählerin es letztendlich auch nicht länger aus. Aus den temporären Ausbrüchen wird eine Entscheidung fürs Leben: Mit Tochter Paula zieht sie in ein Hochhaus ganz in die Nähe der einst so bedeutsamen Linie sechs.

Es ist nicht unbedingt die Geschichte selbst, die den Reiz von Oskamps „Hellersdorfer Perle“ ausmacht. In gewisser Hinsicht ist sie Geschmacksache (Fragen nach Vernunft und Moral stehen noch auf einem ganz anderen Blatt!). Überhaupt hat der Roman einen Haken: er trägt einen faden Beigeschmack allzu gewollter Konstruiertheit. Einige Etappen wirken zu vorhersehbar, die Gestaltung der Figuren mitunter zu stereotyp. Möglicherweise liegt das an der fast schon überbordenden Fülle an Oppositionen, möglicherweise ist es aber auch einfach die Unglaubwürdigkeit, die Zufälle manchmal so mit sich bringen. Denn – es musste ja so kommen – natürlich kollidieren beide Welten irgendwann. Irgendwann, wenn niemand damit rechnet, wenn die Eheleute sich zusammengerauft und einen Theaterbesuch geplant haben, wenn der Literat im Begriff ist, seine eingeschlafene Theaterkarriere zu reaktivieren. „Die Pionierin der Nacht“ heißt sein Bühnenstück. Micha soll es – das ist wohl die Ironie des Schicksals – kritisieren. Der Ich-Erzählerin dämmert es erst, als eine Frau in Korsett und Stiefeln den Schauplatz, ein schäbiges Hochhauszimmer, betritt.

Auch literarisch lässt der zweite Roman der 1970 geborenen Leipziger Autorin die eigentlich so geschätzten Vorzüge ihrer Erzählweise vermissen. Was so abrupt so unvermittelt, und deshalb so eindringlich begann, versandet allzu bald in weitschweifig-liebsäuselnder, manchmal geradezu kitschiger Ausführlichkeit. Es soll wohl ein stilistischer Kniff sein: abermals zum Kontrast wird den eben noch derb getriebenen und grob geschriebenen Unanständigkeiten – zurück in der Weißensee-Heimat – ein sprachlich beschauliches Pendant entgegengesetzt: Kinderschminken, Prinzessinnenkleidchen, Spielplatzbesuche, Kindergeburtstage, das Mutter-Tochter-Katzenspiel. Ein Idyll, aus dem manchmal auch der Leser einfach nur ausbrechen will.

Ein weit spannenderer Aspekt, der den Fokus weg von der Geschichte hin zur Protagonistin selbst lenkt, ist das so klug gesponnene Netz aus Versatzstücken ihrer Vergangenheit, das sich dezent und schleierhaft über die gesamte Handlung legt. Es ist ein reizvolles Ver- und Entwirrspiel, das unweigerlich die Neugierde weckt, das Motivgeflecht zu dechiffrieren. Man möchte die Erzählerin daher eigentlich Tanja Merz nennen, so wie die Protagonistinnen aus „Halbschwimmer“ und „Die Staubfängerin“: Sie alle sind in einer Berliner Plattenbausiedlung der DDR aufgewachsen, ihr Vater war ein linientreuer Staatsbürger und im wiedervereinigten Deutschland führte sie ihr Weg ans Theater. Die erste Liebe zu Schauspieler Karl sowie dessen trauriger Trinkertod – ein wichtiger Teil in Oskamps Debüt – spielt auch für die Staubfängerin und die Ich-Erzählerin in „Hellersdorfer Perle“ eine prägende Rolle.

Töchterchen Paula wird bereits im Vorgängerroman geboren – auch wenn ihr Vater dort nicht Micha, sondern Edgar heißt und Dirigent eines Provinztheaters ist. Aber genau das ist es, was dieses Motivspiel so interessant macht: Es sind keine schlichten Wiederholungen, die Oskamps Werken einen Zusammenhang aufzwängen. Es sind spielerische Varianten. Beispielshalber findet der in „Halbschwimmer“ ausgetragene Vater-Tochter-Konflikt im Roman kein Gehör, der Bruch mit ihm nach der Wiedervereinigung aufgrund seiner Stasi-Vergangenheit ist in den sequenzartigen Kindererinnerungen, nicht existent. Der Effekt ist ebenso seltsam wie naheliegend: Allzu schnell meint man, die Protagonistin seit Jahren zu kennen. Ihr Denken und Handeln ist nachvollziehbar und deshalb – aller Konstruiertheit zum Trotz – authentisch. Ihr zuweilen absurdes Verhalten bedarf keiner Hinterfragung. Denn eines der wichtigsten Motive gibt es schon lange: Oskamps Protagonistinnen haben eine auffällige Affinität zur reifen Männlichkeit. Karl war 30 Jahre älter, von Edgar trennten Tanja rund 20 Jahre. Als sie diesen verließ, floh sie in die derben Männerhände eines alten Fensterputzers. Diesmal ist es ein in die Jahre gekommener Kneipengänger. Die Erklärung, die sich die Erzählerinnen dabei immer wieder selbst liefern: „Es ist einer wie Karl!“ Ob sich dahinter eine sexuelle Neigung oder vielleicht sogar ein Schlüssel für das ambivalente Vater-Tochter-Verhältnis verbirgt, bleibt offen. Vielleicht aber legt Katja Oskamps nächstes Werk neue Fährten.

Titelbild

Katja Oskamp: Hellersdorfer Perle. Roman.
Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2010.
218 Seiten, 18,95 EUR.
ISBN-13: 9783821861104

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