Myriaden von Selbsten

Ulrich Holbeins egomanischer Roman "Isis entschleiert"

Von Lutz HagestedtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lutz Hagestedt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wie schreibt man einen egomanischen Roman, ohne etwas von sich preiszugeben? Wie entwirft man eine rein fiktive Autobiographie, aber eine, in der es vor Quellen, Befunden, Anspielungen nur so wimmelt? Vielleicht am besten so, dass man Zitate sprechen lässt, Zitate aus der gesamten medialen Welt, der Hoch- und der Trivialliteratur, der Film- und Fernsehbranche, der Zeitungskonzerne und Museumsinseln.

Literatur nur aus Literatur zu bauen, das war eine Domäne Helmut Heißenbüttels, und seine "Textbücher" waren sehr konzentrierte, fast karge, nur aus Wörtern gebaute Collagen. Bei Ulrich Holbein geht es bedeutend opulenter zu. Auch sein `Roman´ "Isis entschleiert" besteht offenbar ganz und gar aus Zitaten, auch Bildzitaten, und es ist der Versuch, mittels Literatur das eigene Ego ins Zentrum der dargestellten Welt zu rücken.

Wie soll das gehen? Ich stelle mir Ulrich Holbeins Bibliothek als eine Sammlung hunderter, ja tausender Bücher vor, die einige wenige Gemeinsamkeiten aufweisen: Ihre Autoren oder Figuren heißen entweder Ulrich oder Holbein oder sind Derivate und Varianten dieser beiden Namen. Folglich treten hier auf: alle Ulrich-Figuren der Weltliteratur, von Musil ("Der Mann ohne Eigenschaften") über Tieck ("Ulrich, der Empfindsame") bis hin zu Gotthelf ("Uli, der Knecht") und Werner Vordtriede ("Ulrichs Ulrich"); ferner alle Titel und Autoren, die (Spuren-)Elemente des Namens Ulrich enthalten, also Ulli, Ulrici, Ulysses, Ullstein usw. Hinzu kommen Namen, die klanglich-lautliche Einheiten von Holbeins Nachnamen repräsentieren: Ludwig Hohl, Franz Hohler, Wolfgang und Heike Hohlbein, ferner Holl, Holk, Holberg, Holyfield, aber auch Holzbein, Hölzenbein, Holzwarth, Holozän usw. Und aus diesen Chiffren und ihren textuellen Umgebungen, den Büchern, Bildzitaten, Zeitungsausschnitten lässt Holbein Zitate sprechen, die er zu Geschichten collagiert, deren Protagonisten eben Ulriche und Holbeine und ihre Abkömmlinge sind, Varianten und Spielarten des Selbst.

Ein hochinteressantes Verfahren: Der Autor operiert hier quasi als Zufallsgenerator, der nur einige wenige Vorgaben zu machen braucht, um das Wechselspiel des Akzidentiellen und des Kontingenten in eine Ego-Zentrik `höherer Art´ zu überführen. Der Autor ist mit seinen Namens-Chiffren sozusagen der `Klassifikator´, der durch diese spezielle Form der rein zeichenhaften, rein äußerlichen Ich-Bezogenheit eine Autobiographie zweiter Ordnung herbeischreibt: "Ich sah mich hundertfach. Ich war eine Herde - Ich war eine Myriade von Selbsten, die alle `ich´ waren, eine Kolonie separater Einheiten, zwischen denen ein besonderer Zusammenhalt bestand."

Holbeins Verfahren erfordert erstens Witz in der alten Bedeutung des Wortes, denn es gilt, auch das Inkommensurable ins gleiche Geschirr zu spannen; es erfordert zweitens Finderglück, damit das prima facie hirnrissige Unternehmen Überzeugungskraft gewinnt; es erfordert drittens einen kühlen Kopf gepaart mit Ausdauer, damit das Jagdfieber nicht vorzeitig ins Delirium führt. Ulrich Holbein erfüllt alle diese Voraussetzungen: Seit Beginn der achtziger Jahre (oder schon seit immer) sammelt er mit Fleiß und Ausdauer das Basismaterial für seine uneigentliche Autobiographie als Isis-Kult; er präsentiert uns eine Reihe mitreißender Fundstücke, die zum Teil ähnliche oder analoge Verfahren einsetzen und dadurch eine mise-en-abyme-Struktur der dargestellten Welt erzeugen; Witz und Ingenium beweist er schließlich dadurch, dass er auf der schmalen Basis lautlicher Ähnlichkeiten, die nur kleinste Schnittmengen bilden, die Holographie einer Scheinwelt herbeischreibt, die - halb entschleiert - den Blick auf einen echten, authentischen, ungebrochenen Egomanen freigibt.

Es entsteht eine "methodisch gebändigte, verborgene Spiegeltechnik", die die ganze Welt mit "latenten Körperprojektionen" erfüllt. Man kann es auch als Echo, als "Heerlager" oder als Registertechnik umschreiben, als System von Doppelgängerfiguren und "Mischtypen", die sich zu einem neuen, einem fiktiven Ego Ulrich Holbeins zusammenfügen. Das Ergebnis ist faszinierend, und es kommt mich die Lust an, es dem Autor nachzutun. Man schicke mir Bücher, in denen der Name Lutz vorkommt.

Titelbild

Ulrich Holbein: Isis entschleiert.
Elfenbein Verlag, Heidelberg 2000.
382 Seiten, 34,80 EUR.
ISBN-10: 393224530X

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