Leben im Übergang

Hyman Minskys Hypothese finanzieller Instabilität

Von Joseph VoglRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joseph Vogl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die wiederkehrenden Finanzkrisen der letzten Jahrzehnte legen die Vermutung nahe, dass sich die kapitalistische Ökonomie nicht so verhält, wie sie sich verhalten soll. Denn nach den Berechnungen gängiger Wirtschaftstheorien können diese Einbrüche und Crashs allenfalls mit einem Risikofaktor von eins zu zig Milliarden und also gar nicht stattfinden, und was auf den Märkten seit 2007 passierte, war in wirtschaftswissenschaftlichen Lehrmeinungen weder vorgesehen noch vorhersehbar. Abgesehen davon, dass diese so genannten ‚Krisen‘ wenig wünschenswert sind, geben sie einen Hinweis darauf, dass Ausnahmefälle zum regulären ökonomischen Funktionsablauf gehören und zudem eine Krise jenes Theorieprofils dokumentieren, das auf die innere Ausgleichstendenz von Märkten und insbesondere von Finanzmärkten setzt. Sofern ökonomische Turbulenzen nichts anderes bedeuten, als dass sich gegenwärtige Systemzustände nicht aus vergangenen und zukünftige nicht aus gegenwärtigen ableiten lassen, dass also der Systemverlauf selbst erratisch und unübersichtlich geworden ist, nähren sie einen Zweifel daran, ob die notorische Begrifflichkeit klassischer und neoklassischer Wirtschaftstheorie – Gleichgewicht, Selbstregulierung, Effizienz, rationale Erwartungen – hinreicht, um die Dynamik finanzökonomischer Prozesse zu fassen. Zur Frage steht also, ob sich der spezifische Charakter des Wirtschaftsgeschehens in gleichsam zeitlosen Stabilitätsphasen oder umgekehrt in den besonderen Situationen dazwischen, in scheinbaren Anomalien oder Ausnahmen manifestiert.

Vor dem Hintergrund dieser Fragen haben Hyman Minskys Schriften zur Instabilität moderner Finanzökonomie eine erneute Aktualität erhalten. Seit den 1960er-Jahren hat Minsky (1919-1996), der bei Joseph Schumpeter in Harvard studierte und als Professor für Ökonomik an der Washington University in St. Louis/USA lehrte, seine Hypothese der finanziellen Instabilität systematisch ausgearbeitet und war damit lange Zeit eine der seltenen Stimmen in einem Konzert ökonomischer Dogmen, das von neoklassischen Gleichgewichtsmodellen, von Theorien effizienter Märkte, vom Neoliberalismus Milton Friedmans und der Schule von Chicago dominiert wurde. Mit seinem Selbstverständnis als Postkeynesianer ging es Minsiky nicht nur darum, moderne Wirtschaftstheorie um eine Krisentheorie zu ergänzen, die mit Blick auf die Great Depression der 1930er-Jahre und die ersten größeren Finanzkrisen der Nachkriegszeit zwischen 1966 und 1974 demonstriert, wie Stabilitätsphasen zu Instabilität und schöne Schwünge zu manifesten Unwuchten im Finanzgeschehen führen. Wenn sich Minsky dagegen wendet, die General Theory von John Maynard Keynes mit gleichgewichtstheoretischen Annahmen zu versöhnen und ihre Konsequenzen auf wohlfahrtsstaatliche Interventionen in Krisenzeiten zu reduzieren, so stehen vielmehr die empirischen und epistemologischen Grundlagen des Wissens über die Mechanismen der Wirtschaftsprozesse selbst auf dem Spiel. Die Geste von Minskys Keynes-Interpretation lässt gewisse Analogien zu jenen großen Vorhaben erkennen, mit denen etwa Louis Althusser oder Jacques Lacan durch die Relektüren kanonischer Autoren ihr jeweiliges Gegenstandsfeld theoretisch und methodisch neu konstellierten.

Während die Varianten klassischer Lehre allenfalls anekdotische Erklärungen für Finanzkrisen bereitstellen, nimmt Minsky diese „verheerenden logischen Löcher“ zur Voraussetzung für einen Versuch, der anormale Verläufe und Störungen als Regelfälle kapitalistischer Ökonomien begreift. Seine Untersuchungen gelten dem Verhältnis zwischen Instabilität und den Struktureigenschaften des Finanzsystems und folgen der nicht ganz ungewöhnlichen Annahme, dass sich der Kapitalismus nicht ohne Kapitalisten und nicht ohne kapitalistische Institutionen und Praktiken begreifen lässt. Eine hoch entwickelte kapitalistische Ökonomie ist demnach nicht nur durch Privateigentum und Profitinteressen, durch Märkte für Güter und Dienstleistungen, sondern durch Cashflows und die damit aufgebauten Verbindlichkeiten strukturiert. Unternehmen, die Profit durch die Produktion und den Verkauf von Gütern oder Dienstleistungen ziehen, sind darin mit Akteuren vernetzt, deren Gewinn aus Herstellung und Vertrieb von Schulden resultiert. In diesen Verflechtungen zwischen Produktionen und Investitionen, zwischen Kreditschöpfung und Renditen agieren die verschiedenen Wirtschaftseinheiten als „Finanzintermediäre“, die fortlaufend Portfolio-Entscheidungen treffen. Nach Minsky liegt das Apriori kapitalistischer Ökonomie in der Mechanik von Finanzmärkten und in Finanzierungsstrukturen, die mit der Mobilisierung von Kapital die Wünsche von Investoren und Kreditgebern koordinieren. Gegenwärtige Gewinne validieren vergangene Investitionen, und aktuelle Investitions- und Finanzierungsentscheidungen werden von den Erwartungen künftiger Profite bestimmt.

In diesem Geschäftsmilieu sind alle Akteure mit dem unbequemen Ausblick auf ungewisse Zukünfte konfrontiert und daher dem Drama spekulativer Entscheidungen ausgesetzt. Ausgangspunkt jeder Operation ist die temporale Verwerfung einer Geld-jetzt-für-Geld-später-Korrelation. Die Preise für Vermögenswerte und Investitionsgüter sind unmittelbar von Rendite- und Risikoaussichten inspiriert und durch Zahlungen bestimmt, die nicht jetzt, sondern in der Zukunft passieren. Preise konstituieren sich über die Erwartungen künftiger Preise. Das bedeutet erstens, dass sich Geld- und Kreditverkehr, Investitionen und Kapitalmärkte als zeitkritische und „zeit-konsumierende“ Veranstaltungen präsentieren. Sie beruhen auf Zukunftserwartungen und Gewinnaussichten, Investitionsentscheidungen werden stets unter der Bedingung von Unsicherheit getroffen. Mit Berufung auf Keynes reklamiert Minsky den Realitätskontakt ökonomischer Theorien dort, wo sie Ungewissheit, Unsicherheiten und die Effekte einer „perfidious future“ (Keynes) in Rechnung stellen. Wirtschaftstheorie muss sich mit der Wirksamkeit „intertemporaler Beziehungen“ beschäftigen; Minsky hat die dunklen Kräfte eines irreversiblen Zeitverlaufs in die Modellierung ökonomischer Prozesse eingeführt.

Angesichts eines elementaren Finanzierungsgeschehens, das heißt unter der Voraussetzung, dass der Finanzmarkt Liquiditätsfragen verhandelt und sich über die Verbindlichkeiten von Investition und Kredit strukturiert, kann zweitens Geld nicht als neutrales oder ‚verschleierndes‘ Hilfsmittel begriffen werden, das nur den Schauplatz für die Begegnung von Tauschpartnern und den Abgleich von Angeboten und Nachfragen strukturiert. Die Preisbildung wird weder als Verhältnisbestimmung zwischen knappen Gütern noch – wie in Quantitätstheorien des Geldes – als eine Funktion der regulierbaren Geldmenge auf dem Markt begriffen; die Geldmenge selbst wird durch die dynamischen Proportionen zwischen Kreditschöpfung und Rückzahlungen bestimmt. In einer modernen Kapital- und Kreditwirtschaft sind alle Zahlungen Zahlungsversprechen, und Geld selbst fungiert als Medium mit eigener Wirksamkeit, das künftige Kaufkraft in die Gegenwart transferiert. Minskys Behauptung von der Nicht-Neutralität des Geldes besagt, dass so genannte ‚reale‘ wirtschaftliche Größen direkt von der Vermittlung über monetäre und finanzielle Größen abhängen. Geld öffnet Marktzugänge, um Produktionen, Investitionen oder Vermögenswerte zu finanzieren; mit Geld werden Kapitalgüter heute gekauft, um Gewinne morgen zu realisieren. In der Geldfunktion werden die Verpflichtungsstukturen der Finanzierungsprozesse manifest.

Drittens wird dadurch ein gewisser Konventionalismus (finanz-)ökonomischer Entscheidungen geprägt. Wo das Wissen über künftige Entwicklungen unzulänglich ist oder fehlt, folgt man der Neigung, sich auf scheinbar stabilisierende Konventionen zu berufen. Investoren wie Financiers sondieren Vermögenslagen, die möglichen Schutz gegen widrige Zufälle bieten, sie passen ihre Portfolios dem voraussichtlichen Gang der Geschichte und Hypothesen darüber an, wie der künftige Geschäftsgang verlaufen könnte. So mag man der Annahme folgen, dass sich verbürgte Bewegungen der Vergangenheit in der Zukunft wiederholen; oder man unterstellt, dass aktuelle Marktbewertungen auf der korrekten Einschätzung künftiger Aussichten basieren. Vor allem aber liegt es nahe, die eigene Einschätzung von den Einschätzungen anderer und von der Durchschnittsmeinung überhaupt abhängig zu machen. Sofern Finanzmärkte als Maschinen zur Produktion von Finanzierungspreisen operieren, bilden sich marktgängige Werte danach, was nach durchschnittlicher Meinung die Durchschnittsmeinung über diese Werte sein könnte. Der Finanzmarkt funktioniert als ein System von Antizipationen, die das ökonomische Verhalten auf das Erraten dessen verpflichten, was der Markt selbst von der Zukunft denken mag. In den Preisen der Finanzmärkte kursieren die zur Norm geronnenen Resonanzen kollektiver Ansichten, und sofern sich mit jeder Zahlung eine Meinung darüber artikuliert, was nach allgemeiner Erwartung allgemein erwartet werden könnte, vollzieht sich eine Konformisierung von Entscheidungsprofilen.

Auf diesem Terrain, in dem die bloße Allokation von Gütermengen durch die Vergegenwärtigung von Ertrags- und Risikoaussichten abgelöst wurde und aktuelle Preishorizonte sich mit künftigen Preishorizonten rückkoppeln, können Märkte nicht mehr um bestehende Mengen, knappe Güter und feste oder ‚reale‘ Wertreferenten gravitieren. Ihre Akteure operieren nicht mit bekannten Quantitäten, sondern mit Meinungen über Meinungen. Dies macht scheinbar verlässliche Größen wie Angebot und Nachfrage – und deren stabilisierende Kraft – nicht nur unkenntlich, sondern unerkennbar. Die Mechanismen von Angebot und Nachfrage gelten nur für einen Bereich, in dem man mit fixen Budgets operiert, nicht dagegen dort, wo Finanzierungsbedingungen und Zukunftserwartungen im Spiel sind. Der Nachweis, dass Tauschwirtschaft kohärent und ausgleichend, distributiv und allokativ sein könnte, würde demnach noch nichts für das Funktionieren der Finanzökonomie beweisen. Auf Finanzmärkten tritt keine Sättigung ein, und der Bedarf an Investitionsgütern ist strikt vom Bedarf an Konsumgütern zu unterscheiden.

Diese Elemente – Verbindlichkeiten, Ungewissheit, die Nicht-Neutralität des Geldes und der Konventionalismus ökonomischer Entscheidungen – sind der wesentliche Angelpunkt für Hyman Minskys Hypothese finanzieller Instabilität. Demnach setzen in einer modernen Finanzökonomie – charakterisiert durch profitorientierte Akteure, Bankensystem, Handel mit Kapital- und Vermögenswerten – gerade stabile und aussichtsreiche Wirtschaftslagen einen diabolischen Finanzierungskreislauf in Gang. Dabei gilt die Wirksamkeit einer genuin kapitalistischen Struktur und somit die Tatsache, dass die elementaren Einheiten dieser Ökonomie nicht aus Tauschverhältnissen, sondern aus Verpflichtungsstrukturen bestehen, also Investitions- und Finanzierungsentscheidungen miteinander verknüpfen und auf eine ungewisse Zukunft und deren Ertragsrisiken beziehen. Unter dieser Voraussetzung gibt es in Perioden robusten Wachstums mit positiven Langzeiterwartungen – Minsky beobachtete das unter anderen am Investitionsboom der USA seit 1963 – zunächst keinen guten Grund dafür, den Spielraum für Investitionen nicht über den Rahmen abgesicherter Finanzierung hinaus zu erweitern. Vielmehr erscheint es plausibel, die gerechtfertigte Hoffnung auf künftige Kapitalerträge mit weiteren Investitionen abzugleichen und Finanzierungsnachfragen zu intensivieren. Das führt zum einen dazu, die Einnahmen aus Investitionen nicht mehr zur Kredittilgung, sondern zu Reinvestitionen zu verwenden, auf einen ‚spekulativen‘ Kapitalisierungsprozess zu vertrauen und fällige Kredite mit Krediten zu refinanzieren. Zum anderen motiviert der zunehmende Finanzierungsbedarf seitens gewinnorientierter Finanzinstitute die Erfindung ‚neuer‘ Geldtypen und Finanzinstrumente in Form von Geld-Substituten oder Portfolios.

In diesem Prozess, in dem jede Finanzinnovation sowie jede erweiterte Nutzung von bisherigen Finanzierungspraktiken das Finanzierungsvolumen erhöht, werden – vereinfacht gesagt – höhere Investitionen mit steigenden Gewinnen, Profite mit steigenden Preisen für Vermögenswerte (wie Aktien) und diese wiederum mit höheren Preisen für Investitionen rückgekoppelt. Oder anders gesagt: Unter günstigen wirtschaftlichen Bedingungen wird die Beschaffung von Krediten erleichtert, das Investitionsvolumen vergrößert. Die effektive Geldmenge wächst an, und die damit ansteigenden Preise für Renditekapital erhöhen die Nachfragen nach Krediten und zugleich die Bereitschaft zu deren Finanzierung. In diesem Erwartungsklima werden mit zunehmenden Investitionen Sicherheitsmargen verkleinert, Liquiditätspräferenzen reduziert, Geldangebote erhöht, der Umlauf von Schulden vergrößert, und die Ausweitung des Finanzierungsgeschehens zieht eine wechselseitige Steigerung von Vermögenswerten und Preisen für Investitionsgüter nach sich. Daraus erwächst, nach Minsky, zwangsläufig eine pyramidale Struktur, in der sich der Ausgleich ausstehender Schulden über weitere und riskantere Investitionen vollzieht. Dem Rückgang liquider Mittel im Verhältnis zum Marktwert von Kapitalvermögen in den Portfolios steht ein Anwachsen von Verpflichtungen gegenüber, deren Ausgleich von steigenden Reingewinnen abhängig ist, ein rekursiver Anstieg von Fremdfinanzierung und Schuldendienst. Dies ergibt ein sich selbst erhaltendes und sich selbst beschleunigendes System, das sich an seinem eigenen Erwartungshorizont ‚euphorisiert‘.

Verbindlichkeiten und ein allgemeiner Verschuldungszusammenhang stehen also in unmittelbarer Rückkopplung mit Erwartungsprofilen, und der kritische Faktor dieser Dynamik liegt im Verhältnis zweier gegenläufiger Kapitalströme, im Verhältnis zwischen Kapitaleinkünften und Kreditverpflichtungen, in der Relation zwischen fixer beziehungsweise terminierter Verbindlichkeit und erwartbaren, aber stets ungewissen und variablen Ertragsaussichten. Die prekäre Situation entsteht schließlich dort, wo die Erfüllung von Finanzierungskontrakten entweder neue Anleihen oder den Verkauf von Vermögenswerten verlangt, was einerseits zu kostspieligeren Finanzierungsoptionen und steigenden Investitionskosten, andererseits zu Einbußen und Preisdruck auf Sekundärmärkten, also zu sinkenden Kapitalpreisen führen kann. Wenn in der Folge ein Anstieg von Liquiditätspräferenzen und somit eine Gefährdung von Liquidität überhaupt oder umgekehrt ein Preisverfall bei Vermögenswerten eintritt, kann das durch die kaskadenartige Verflechtung, durch die von der Bankenstruktur garantierte Interdependenz, ausgehend von einzelnen Akteuren auf das gesamt ökonomische System zurückwirken – eine Spirale schwindender Investitionen, sinkender Gewinne, kollabierender Anlagen. Der Systemverlauf hat seine Peripetie erreicht, an der das Geschehen ganz und gar ungewiss wird, turbulenten Charakter annimmt und eine Fortsetzung der Operationen oder einen Kollaps gleichermaßen möglich erscheinen lässt.

Minskys Hypothese finanzieller Instabilität besagt demnach, dass manifeste Krisen und Zusammenbrüche nicht einfach durch äußere Erschütterungen, durch fiskalische oder politische Theatercoups, sondern durch die Parameter und Eigenbewegungen der Finanzökonomie selbst hervorgebracht werden. Anders als in kybernetischen und sich selbst regulierenden Systemen wird der Finanzmarkt durch seine Ruhe beunruhigt, durch seine Stabilität destabilisiert, und gerade sein effizientes Funktionieren wird ganz und gar dysfunktional. „Stabilität wirkt destabilisierend.“ Jede stabile Phase ist transitorisch, und in einer Welt mit kapitalistischer Finanz, so heißt es bei Minsky, „stimmt es ganz einfach nicht, dass dann, wenn alle Mitspieler ihre eigenen Interessen verfolgen, die Wirtschaft ins Gleichgewicht gebracht wird.“

Eine Analyse von Angebot und Nachfrage – mit der Aussicht auf Ausgleich und Gleichgewicht – erklärt nicht das Verhalten einer kapitalistischen Ökonomie, und deren Finanzierungsprozesse operieren so, dass sie selbst „endogene destabilisierende Kräfte“ entwickeln. Das heißt: Die Finanzinstitutionen des Kapitalismus sind „von sich aus ruinös. Anstatt die Eigenschaften freier Märkte zu bewundern, sollte man akzeptieren, dass das Gebiet effektiver und wünschenswerter freier Märkte begrenzt ist.“

Nach Minsky wird moderne Ökonomie durch zyklische und transitorische Phasen geprägt, und der zwangsläufige Übergang von gesicherter über spekulative bis zur pyramidalen Finanzierung ist kein peripheres, sondern ein zentrales Merkmal kapitalistischer Finanzstruktur. Mit Blick auf Kapitalmärkte sind also Krisen stets Zirkulationskrisen und als solche Krisen der Liquidität. Das Wechselverhältnis zwischen Finanzinnovationen, Investitionsvolumina und Schuldenumlauf hat sich als plausible Beschreibung der finanzökonomischen Dynamiken der letzten vier Jahrzehnte erwiesen, und Minskys Theorie finanzieller Instabilität kann wie kein anderer Entwurf eine Folie zum Verständnis der jüngsten Finanzkrise der Jahre 2007 ff. bieten.

So konnte man auf den Finanzmärkten zunächst die Rückkopplung verschiedener Kapitalisierungsprozesse verzeichnen, die von durchaus soliden ökonomischen Ausgangsbedingungen und völlig rationalen Entscheidungsprozeduren beziehungsweise Erwartungshorizonten in Gang gesetzt wurden. Die seit den 1990er-Jahren insbesondere in den USA ansteigenden Immobilienpreise haben demnach zu einem erhöhten Finanzierungsbedarf, dann zur Erfindung neuer Finanzinstrumente und mit diesen wiederum zu wachsenden Kapitalerträgen, zur Suche nach weiteren Investitionsmöglichkeiten und daher zu weiter steigenden Immobilienpreisen geführt. Die Werterhöhung des bestehenden Kapitals hat die Emittierung riskanter Verbindlichkeiten und schließlich die Akzeptanz von unsicheren Assets nach sich gezogen. Dies war bei den so genannten Verbriefungen der Fall. Kreditgeber, das heißt Geschäfts- oder Hypothekenbanken, haben vergebene Immobilienkredite in Obligationen verwandelt, diese mit rücklaufenden Zinszahlungen gedeckt, in verschiedene Tranchen zerlegt und auf sekundären Märkten als asset-based securities verkauft. Von Investmentbanken wurden diese mit anderen Anleihen kombiniert und in neuer Verpackung als Vermögenswerte mit unterschiedlichen Risiken beziehungsweise Ertragsaussichten, als collateral debt obligations vertrieben. Über verschiedene und beliebig fortsetzbare Kaskaden konnte damit nicht nur das Finanzierungsangebot bei steigender Kapitalnachfrage beliebig vergrößert werden, vielmehr wurden zudem die Passiva, also die Kreditrisiken aus den Bilanzen der ursprünglichen Kreditgeber herausgelöst, verstreut, diversifiziert und gewissermaßen versichert, und zwar durch die Logik jener Derivate, in denen die Interessen von risikoaversen Verkäufern mit denen von risikoaffinen Käufern korrespondieren. Der Finanzierungsbedarf wurde mit dem Verkauf von gekauften Risiken gesichert, Zahlungsunfähigkeit bezahlbar, und diese Verschmelzung von Derivaten und Kreditgeld lässt sich als Reflexiv-Werden der Geldschöpfung begreifen und somit als potenzierter Umlauf von Insolvenz. Bei ansteigenden Preisen für Vermögenswerte nimmt messbares Risiko ab; es veranlasst die Bereitstellung zusätzlichen Kapitals für weitere Reinvestitionen und motiviert einen Prozess, der – wie von Minsky beschrieben – von gesicherten über spekulative zu höchst riskanten Finanzierungsverfahren verläuft.

Nachdem allerdings im Jahr 2006 die Immobilienpreise stagnierten und ab Herbst zu fallen begannen, setzte sich ein allgemeiner Zweifel über die Höhe gegenwärtiger und künftiger Werte kursierender Kapitalvermögen und insbesondere der so genannten subprime-Anlagen durch. Gerade noch geltende Wertschätzungen kippten, die wechselseitige Unterstützung progressiver Bewegungen wurde irritiert, und die Signale des Marktpreissystems haben – samt der damit verbundenen Anreize – ganz und gar erratischen Charakter gewonnen. Als dann mit den ersten Zahlungsunfähigkeiten von Immobilienbesitzern die Wahrscheinlichkeit von Kreditausfällen anwuchs, neue Investitionen ausblieben, Kreditlinien verschärft wurden, Rating-Agenturen einige Papiere deklassierten und Geldmarktzinsen stiegen, setzte ganz konsequent die umgekehrte Anpassungsbewegung, eine Anpassung an veränderte Erwartungshorizonte ein. Der Markt für verbriefte Immobilienanleihen stockte und brach ein, Vermögenswerte aller Art mussten zur Refinanzierung verkauft werden, Kapitalmärkte gerieten unter Druck und ließen Immobilienpreise weiter sinken. Der sich selbst verstärkende Preisverfall für Immobilien, Hypotheken und deren Derivate hinterließ die bekannten schwarzen Löcher an Liquidität.

Hyman Minskys Hypothese finanzieller Instabilität zeichnet sich – so ließe sich das zusammenfassen – durch ein intellektuelles Profil aus, das sich gegen den Entwurf „idyllischer Ökonomien“ und gegen die Annahme wendet, Volkswirtschaften ließen sich im Rekurs auf elementare Tauschakte und wie ein „Dorfmarkt“ analysieren. Sie distanziert sich von ökonomischen Fabeln, die den Wirtschaftsprozess in aufsteigender Linie von tauschbereiten und interessierten Akteuren bis zu dezentralen und kompetitiven Märkten verfolgen. Über lange Zeit hinweg hat sich klassische und neoklassische Theoriebildung durch den Nachweis gerechtfertigt, dass das Zusammenspiel unterschiedlicher Faktoren und Strebungen auf den Märkten eine Ordnungsfigur eigener Qualität zu produzieren vermag; und die Möglichkeit ökonomischer Wissenschaft hing an der Unterstellung, dass ökonomische Dynamiken selbst gesetzmäßig verlaufende Prozessformen seien. Die Regelhaftigkeit ökonomischer Phänomene galt als Voraussetzung für ein theoretisches Format, das sich als Register von Anweisungen zum Bau kohärenter ökonomischer Modelle versteht. Gleichgewichtsannahmen müssen darin als logische oder theoretische Notwendigkeit angesehen werden, durch sie wird die Systemhaftigkeit von Wirtschaftsprozessen und die epistemische Konsistenz ökonomischer Wissenschaft garantiert. Eine ‚Theorie‘ reinen Ungleichgewichts wäre hier so unsinnig wie die Idee eines Systems ohne innere Kohärenz. Wenn Minskys Studien demgegenüber einen anderen Weg einschlagen, so hat das zwei Konsequenzen. Einerseits geht es um den Verzicht auf platonistische Elemente in der Theoriebildung selbst. Für Minsky sind Markteffizienz und perfekter Wettbewerb eben nicht jene idealbildlichen Abstraktionen, die sich in den Realitäten des Wirtschaftsgeschehens stets mehr oder weniger realisieren. Gleichgewichtszustände sind keine statischen theoretischen Bezugspunkte, sondern allenfalls heuristische Konstrukte zur Beschreibung komplexer Dynamiken und Strukturen.

Andererseits geht es darum, theoretische Reduktionismen zu reduzieren und ökonomische Theorie als begrifflich instruierte Annäherung an Gegebenheiten und Umstände zu begreifen. Ökonomische Daten erscheinen dabei als historisch generiertes Tatsachenmaterial, das sich keineswegs einem naturgesetzlichen Verlaufsprotokoll fügt. Mit der Behauptung von Unsicherheit, irreversiblen Prozessen und instabilen Strukturen erhebt Minskys Theorie den Anspruch, ökonomische Prozesse im offenen Feld ihrer Geschichte zu fassen. In diesem Feld sind freie Preisbildungsmechanismen nur in manchen Märkten kohärent, erzeugen aber Inkohärenz in anderen und werfen die Fragen nach der Begrenzung von Marktschauplätzen und nach der Kontrolle von Investitionsprozessen auf: „Während der Marktmechanismus ein hinreichend gutes Instrument dafür ist, um soziale Entscheidungen über so unwichtige Dinge wie Farbmischungen und Kleiderproduktion, über Rocklängen oder das Aroma von Eiscreme zu treffen, kann und sollte man sich nicht auf ihn verlassen, wenn es um wichtige, große Dinge wie Einkommensverteilung, den Erhalt ökonomischer Stabilität, die allgemeine Wirtschaftsentwicklung und die Erziehung und Ausbildung der Jugend geht.“

Minskys Hypothese finanzieller Instabilität jedenfalls lässt sich als Versuch begreifen, das Wissen über ökonomische Prozesse von deterministischen Hoffungen zu befreien und in den Gegenstandsbereich politischer und sozialer Praxis zu rücken. In Minskys Studie über John Maynard Keynes heißt es: „Zutreffend bleibt in jedem Fall, dass sich unser Leben im Übergang abspielt. Es gibt keine letztgültige Lösung für das Problem der Organisation des Wirtschaftslebens.“

Anmerkung der Redaktion: Joseph Vogl, Autor des 2010 erschienenen Buches „Das Gespenst des Kapitals“ (siehe die Rezension in literaturkritik.de 5/2001), hat 2011 zwei wichtige Schriften Hyman Minskys unter dem Titel „Instabilität und Kapitalismus„ im Diaphanes Verlag herausgegeben. Der Beitrag entspricht der „Vorbemerkung“ zu diesem Band. Wir danken Joseph Vogl für die Genehmigung zur Publikation.

Titelbild

Joseph Vogl: Das Gespenst des Kapitals.
Diaphanes Verlag, Zürich 2010.
225 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783037341162

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