Faszinierende Fährten

Pünktlich zum 75. Geburtstag legt Wolf Biermann in seinem Buch „Fliegen mit fremden Federn“ ein prallgefülltes Bündel poetischer Anregungen vor

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im Wintersemester 1993/94 hatte Wolf Biermann in Düsseldorf im Rahmen der „Heinrich-Heine-Professur“ vor Studenten Vorlesungen gehalten. An Beispielen referierte Biermann seine ideale Vorstellung über einen gelungenen künstlerischen Text: der Dichter „liefert nicht im direkten Zugriff ein Stück Welt, sondern die Wirkung der Welt auf ihn, das dichtende Subjekt.“

Ohne ein „Ich“ im Text, darauf beharrt Wolf Biermann, rutscht das Gedicht in die Pose ab, wird vom Kitsch belauert. Zur Untermauerung seiner These holt Biermann weit aus, beruft sich auf seinen Urahnen François Villon, auf Oswald von Wolkenstein und die Etablierung des Subjekts in der Welt der Renaissance.

Wie zur Illustration seiner Vorlesungen präsentierte Biermanns neuer Hausverlag Hoffmann und Campe rechtzeitig zu dessen 75. Geburtstag am 15. November 2011 ein Lesebuch der besonderen Art. Unter dem Titel „Fliegen mit fremden Federn“, der sich dem Spiel der Alliteration hingibt, sind erstmals Lieder und Adaptionen von Dichtern und Liedermachern anderer Länder und Sprachen versammelt, die Wolf Biermann im Laufe seines Lebens in das Deutsche übertragen hat. Es ist hier durchaus angebracht, statt von Übersetzungen von Nachdichtungen zu sprechen.

Bereits Biermanns Übertragungen von Shakespeare-Sonetten in die ihm eigene Biermann-Sprache hatten für Aufsehen gesorgt. Der Literaturkritiker Alan Posener urteilte gewitzt: „So gegenwärtig war Shakespeare nie, und wenn dabei aus Shakespeare Shakesbiermann wird, sei’s drum“.

Die 40 Sonette sind hier ebenso mitabgedruckt wie Julij Daniels „Berichte aus dem sozialistischen Lager“, die Biermann noch zu seinen DDR-Zeiten in der Bundesrepublik herausgegeben hatte. In seinem handschriftlichen Kommentar merkt Biermann an, dass Julij Daniel seinerzeit zusammen mit dem Schriftsteller Andrej Sinjawski in der Sowjetunion vor Gericht gestellt worden waren: „1966 wurden sie zu je fünf Jahren GULag verurteilt, als ich in der DDR nur total verboten wurde. In der UdSSR waren die Preise für freie Wörter höher“.

Biermanns kernige Art des Nachdichtens sieht, ganz im Sinne Martin Luthers, dem Volk aufs Maul und knurrt und schnurrt je nach Bedarf vor sich hin. Dann kommen solche Verse zustande, wie in Julij Daniels Lied „Der Wachposten“: „He, Bürschchen! Auf deinem Turm da oben! / Wie bist du bloß so tief gesunken, wie?“

Es sei, so merkt Biermann an, seiner Frau zu verdanken, dass er in diesem Buch seine „Schatztruhe“ öffnet und er dankt es ihr mit einer traumhaften Widmung. Die Schätze jedoch wiegen schwer. Es sind Lieder und Gedichte aus zwanzig Sprachen versammelt. Die Abgeschlossenheit vor der Welt hatte Biermann in der DDR geradezu begierig nach allen Anregungen greifen lassen, die ihn in seiner Ost-Berliner Wohnung in der Chaussestraße 131 erreicht hatten.

Besonders aufwühlend sind Gedichte jüdischer Poeten wie „So einer ist mein Landsmann“ von Antoni Slonimski, die unter den brutalen Eindruck deutscher Konzentrationslager geschrieben wurden. Einer entfesselten Kanaille, die sich herausnahm, über Leben und Tod zu bestimmen, setzte Slonimski die mitfühlende Menschlichkeit des Einzelnen in seiner ganzen Tapferkeit entgegen.

Die als „Vorwort“ betitelte Einleitung, sowie auch seine eingefügten handschriftlichen Kommentare widerlegen Biermanns wiederholt vorgetragene hartnäckige Weigerung, seine Erinnerungen zu Papier zu bringen, als Ausdruck einer eklatanten Fehleinschätzung. Es zeigt sich, dass er vieles zu berichten und zu erzählen hat.

Der vorliegende Band belegt eindrucksvoll Biermanns Eingebundenheit in eine Welt jener Dichtung, die sich einer gezielten Verwertbarkeit, ganz gleich unter welchem Banner und in welchem Land, verweigert. Über die Jahrzehnte hinweg lässt sich in Biermanns eigenem lyrischem Werk die Spannung zwischen ureigensten privaten Gefühlen und politischer Aktualität ausmachen.

In einem Interview äußerte sich Biermann über entscheidende Kriterien von gelungener Dichtung: „Im besten Fall sind starke Gedichte für die Leser eine günstige Gelegenheit der Selbsterkenntnis oder der Selbstvergewisserung, oder auch einer produktiven Selbstverunsicherung. Wenn ein Lied das liefert, dann lohnt sich die Poesie für die sogenannte Kundschaft – egal, ob sie in der Demokratie mit Geld zahlt oder in der Diktatur mit Gefängnis“.

Titelbild

Wolf Biermann: Fliegen mit fremden Federn. Nachdichtungen und Adaptionen.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011.
544 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783455403442

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