Zunehmender literarischer Eigensinn

Der erste Stücke-Band in der neuen Heiner Müller-Werkausgabe

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit 1998 erscheint die auf sieben Bände projektierte Heiner Müller-Werkausgabe im Suhrkamp-Verlag. Der nunmehr erschienene dritte Band versammelt die dramatischen Arbeiten Müllers von den Anfängen um 1950 bis 1969 (ohne reine Übersetzungen oder unselbständige Bearbeitungen). Neben so bekannten Stücken wie "Der Lohndrücker", "Die Korrektur", "Die Umsiedlerin", "Philoktet", "Der Bau" und "Herakles 5" stehen die weniger bekannten Szenenfolgen "Zehn Tage die die Welt erschütterten", "Klettwitzer Bericht", "Glücksgott" und "Drachenoper". Ergänzt werden die Stücke durch frühe Fragmente, zum Teil wie die Stücke schon früher publiziert, zum Teil aus dem Nachlass erstmals gedruckt. Es ist interessant, die Texte einmal zusammenhängend in chronologischer Reihenfolge lesen zu können. Dabei wird deutlich, dass es keine Trennung zwischen dem Müller der sogenannten "Produktionsstücke" und dem der "Antikenstücke" gibt. Beide Bereiche laufen von Anfang an parallel.

Eine der frühesten Szenen, "Gespräch der Bediensteten im Palast des Agamemnon während dieser ermordet wird in der Küche", geschrieben Anfang der 1950er Jahre, thematisiert die aktuelle Lage der gerade gegründeten DDR in mythologisch-antikem Gewand. Wie in den "Produktionsstücken" im engeren Sinn ergibt sich die dramatische Spannung aus dem Konflikt zwischen Enthusiasmus und Naivität der Jungen und der Abgeklärtheit oder auch Resignation der Alten. Typisch für den frühen Müller ist auch der entlarvende Blick von unten oder hinten auf die 'große' Geschichte. Lakonisch war Müllers Witz von Anfang an.

"Erste Alte: Sie haben zehn Schiffe gebraucht, daß sie die Soldaten unterbrachten, als es losging. Zurück haben zwei genügt. Aber Agamemnon hat vier gebraucht für die Beute.

Junge Frau: Ja, wir haben gesiegt.

Erste Alte: Wir? Meiner hat nichts mitgebracht außer einer Speerwunde."

Neben vier bisher noch nicht gedruckten Fragmenten der Jahre 1947-1955 aus dem Nachlass - darunter die in Hinblick auf die späten Shakespeare-Adaptionen interessierende Paraphrase einiger Szenen aus "Timon von Athen" - enthält der Anhang des Bands auch ein erst Ende der 1980er Jahre im Brecht-Archiv wiederentdecktes, vollständig ausgearbeitetes Stück mit dem Titel "Held im Ring", ein "Festliches Requiem für Werner Seelenbinder", das Müller 1951/52 zusammen mit Vilmoš Korn schrieb; vorderhand der spannendste Erstdruck. Sollte dies der schlimmste Fehltritt Müllers in künstlerischer oder politischer Hinsicht gewesen sein, braucht man für seinen Nachruhm nicht zu fürchten. Müller erwähnte das Stück zu Lebzeiten zwar, wollte es aber (mit Ausnahme dreier Blankversszenen daraus, die 1988 gedruckt wurden) nicht als ernstzunehmende Arbeit gelten lassen, sondern denunzierte es als "ein proletarisches Fest- und Weihespiel mit Arbeiterchören und Tanzgruppen", geschrieben angeblich ohne echtes Interesse als eine dann doch nicht verwendete Auftragsarbeit für die Eröffnung der Werner-Seelenbinder-Halle in Berlin 1952 (eine Sporthalle, wo die SED fürderhin Parteitage veranstaltete). Seelenbinder war ein kommunistischer Ringer, der auf dem Siegerpodest 1934 bzw. 1936 den Hitlergruß verweigerte und später als Volksverräter hingerichtet wurde. Im Stück, eine zum größeren Teil tatsächlich nicht besonders überzeugende Märtyrerlegende, heißt es einmal, der 'Held' würde nur "Phrasen" dreschen: Wohl wahr. Dennoch zeigt sich hier gelegentlich schon Müllers später so ausgeprägter Blick für die psychologischen Widersprüche, mit denen die Genossen innerhalb der Partei fertig werden mussten. Den Problemkern von aller Geschwätzigkeit befreit, kehrte eine der interessanteren Fragen aus dem Seelenbinder-Stück in der "Schlacht" (1975) wieder, abermals unter der Überschrift "Nacht der langen Messer". Kann man dem noch trauen, der einmal durch die Verhöre der Gestapo gegangen war? Wann beginnt der Verrat?

Verrat am eigenen Interesse, seine Fragen an die deutsche Geschichte in literarische Texte, und zwar in unverwechselbare, an den großen Mustern der Weltliteratur geschulte Texte, zu verwandeln, beging Müller immer weniger. Er wollte sich von Kultur-Funktionären nicht verbieten lassen, nach "dem Mist unter den Blumen zu graben", wie es im "Bau" heißt, also den ungelösten und unbewältigten Problemen der Geschichte hinter einer oberflächlich funktionierenden Gesellschaft, sei sie sozialistischer oder kapitalistischer Machart, dramatisch nachzuspüren. In dem Band lässt sich nachvollziehen, wie der "Eigensinn literarischer Arbeit", wie es der Herausgeber Frank Hörnigk nennt, bei Müller stetig zunimmt. In gewisser Weise förderten die sozialistischen Kultur-Funktionäre mit kleinlichen Verboten und Zensurmaßnahmen diese Entwicklung. Denn als Müller Ende der 1960er Jahre "als Autor erstmals wieder in der Theateröffentlichkeit der DDR auftaucht", aus der ihn die Bürokraten ein halbes Jahrzehnt zuvor verbannt hatten, "ist er längst ein international", d. h im westlichen "Ausland", "anerkannter Autor geworden". Der vorliegende Band lässt einen nachvollziehen, warum.

Anders als die beiden vorhergehenden Bände der Werkausgabe wird dieser Band das Bild von Müller kaum modifizieren. Seine allerersten Versuche dialogischer Schreibweise haben zwar noch nicht den unverwechselbaren Ton der späten Stücke. Sie sind orientiert an der expressionistischen Dramatik eines Georg Kaiser oder Ferdinand Bruckner und natürlich an Brecht (übrigens ist es erstaunlich wenig, was sich aus den frühen Jahren erhalten hat bzw. hier aus dem Nachlass mitgeteilt wird). Doch nach einer frühen Pause, die Müller nach eigener Auskunft mit "Lektüre, dramaturgischen Studien und missglückten Versuchen" füllte, war er bereits da: Der sprachmächtigste deutsche Dramatiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der 1957 mit dem "Lohndrücker" seinen ersten Klassiker vorlegte, und einen Klassiker der deutschen Nachkriegsdramatik überhaupt.

Titelbild

Heiner Müller: Die Stücke 1. Werke. Band 3.
Herausgegeben von Frank Hörnigk.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
555 Seiten, 27,80 EUR.
ISBN-10: 351840895X
ISBN-13: 9783518408957

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