Eine Collage aus Notizen

Wolfgang Hegewald erinnert sich in seiner „eigenen Geschichte“ an das Jahr 2000

Von Martina DrautzburgRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Drautzburg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wunderkammern, das waren bis ins 17. Jahrhundert hinein die Vorläufer unserer heutigen Museen. Reiche Privatleute trugen in ihrer Sammelwut Antiquitäten, Raritäten, Kuriositäten und andere Dinge, deren Sinn sich nicht auf den ersten Blick erschließt, zusammen, die die Vielfalt der Welt repräsentieren sollten. Wie eine Wunderkammer voller Worte und Gedanken erscheinen auch Wolfgang Hegewalds „Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000“, so der Untertitel seines Buches „Die eigene Geschichte“, das zehn Jahre nach dem Millenniumswechsel im Berliner Verlag Matthes & Seitz erschienen ist.

Ein wenig hilflos steht man wohl auch dieser Wunderkammer, dieser Sammlung gegenüber. Ein Jahr lang hat Hegewald Beobachtungen, Gedanken, Träume, Nachrichten und andere Dinge, deren Sinn sich nicht auf den ersten Blick erschließt, zusammengetragen. Einzig die Unterteilung des Textes in Monate bietet einen Anhaltspunkt für eine möglichen Ordnung dieser Collage.

„Die Aufdringlichkeit des Symbolischen: der Untergang der Kursk und der Brand im Moskauer Fernsehturm.“ So oder ähnlich lauten die kurzen Notizen zu aktuellen Ereignissen. Hegewald lässt sie für sich stehen, reiht sie meist kommentarlos aneinander. Viel mehr braucht es aber auch nicht, denn allein die Art der Auswahl bringt vieles auf den Punkt: „Ein als E-Mail ILOVEYOU getarnter Computervirus löst eine weltweite Seuche aus.“

Wetter- und Naturbeobachtungen stehen neben Gesellschaftskritik und Zeitungsnotizen, manchmal sogar in ein- und demselben Gedanken und entlarven dabei oft die subtilen Abgründe der Realität: „Es heißt, die ersten Zugvögel seien schon aus dem Süden zurückgekehrt. Letzte Nacht starben in Niedersachsen sieben Menschen auf eisglatten Straßen.“

Hegewald beschänkt sich aber nicht auf aktuelle Ereignisse, auch kurze Essays über Vergangenes gehören zu seinem Repertoire. Dabei widmet er sich vor allem der deutschen Vergangenheit in der DDR und der NS-Zeit. Als einen Wahrnehmungswütigen bezeichnet ihn sein Berliner Verlag. Ob das so zutrifft, mag bezweifelt werden, denn das nichteinmal 170 Seiten umfassende rosafarbene Bändchen kommt für die Aufzeichnungen eines gesamten Jahres doch eher dürftig daher.

Das Konzept des Buches lässt sich wohl am ehesten anhand des Textes selbst erklären. Im Juli beschwert sich Hegewald über eine Radiorezension eines nicht genannten Buches, das aufgrund seiner besonderen „Welthaltigkeit“ gelobt wird. Hegewald vermutet, dass es sich hierbei um eine Geschichte mit „viel Handlungsgeranke und Schicksalsgewusel“ handeln muss. Welthaltig in diesem Sinne ist das Buch des Hamburger Poetologieprofessors ganz und gar nicht. Bewusst verzichtet er auf alles Romanhafte.

Stattdessen wirft er einen pointierten Blick auf die Absurditäten des Lebens. Kritisch analysiert er die Doppeldeutigkeiten der Sprache: „Gleich kannst du etwas erleben, verspricht Pop, das artikellose Hauptwort; es ist die alte, dem Ohr seit Kindertagen vertraute Drohung.“ Hegewald zeigt sich als Chronist einer Zeit, die wir alle noch gut kennen, als das Millennium zu Ende ging und die D-Mark und Raucherabteile in der Bahn noch alltäglich waren. Wer beim Lesen eines Buches die Beantwortung seiner Fragen erwartet, der wird enttäuscht. Wem es aber gefällt, beim Lesen auf ständig neue Fragen zu stoßen, der wird an Hegewalds Buch seine Freude haben. Wie in einer Wunderkammer kann man denn auch hier zwischen viel Gerümpel den ein oder anderen Schatz entdecken.

Titelbild

Wolfgang Hegewald: Die eigene Geschichte. Aufzeichnungen aus dem Jahr 2000.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2010.
160 Seiten, 14,80 EUR.
ISBN-13: 9783882215441

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