Das Verbotene tun

Martin R. Deans Roman „Ein Koffer voller Wünsche“ erzählt vom Fremdenverkehr in der Schweiz

Von Thomas SchwarzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Schwarz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die neuesten Leiden des gealterten Werthers beginnen damit, dass der Ich-Erzähler rekapituliert, wie er seine Schweizer Freundin bei einer Bootsfahrt auf dem Zuger See „das erste Mal einen Apfel schälen und in sechs gleich große Stücke schneiden“ sieht. Maia Gut Diesbach ist Mitte dreißig und Tochter aus reichem Hause. Ihr Geld verdient sie als Deutschlehrerin. Anders als Lotte hat sie es nicht nötig, bei Männern auf die Einkommensverhältnisse zu achten. Ihr Werther, Filip Shiva Bellinger, hat die Vierzig schon hinter sich gelassen. Seine Mutter ist Schweizerin, Tochter eines Fabrikarbeiters, die sich zur Chefsekretärin hochgearbeitet hat. Der Vater Filips heißt Shiva Ranuki. Nachdem er die Mutter sitzen gelassen hat, scheint der Vagabund in London verschollen zu sein. Als Maia Filip einen Heiratsantrag macht, bittet sich dieser Bedenkzeit aus. Die Jahrtausendwende steht an. Noch einmal will Filip aus der Schweizer Provinz heraus in eine Weltstadt.

Der leere Koffer des Migranten

Filips Erzählung setzt mit der Reise auf den Spuren seines indischen Erzeugers nach London ein. Die Suche nach dem Vater ist ein prominentes Thema im Werk des Basler Schriftstellers Martin R. Dean. Er gehört zu den wenigen deutschsprachigen Autoren von  postkolonialem Format, das sich aus einem biografischen Hintergrund speist. Dean ist der Sohn einer Schweizerin und eines Vaters aus der indischen Diaspora auf Trinidad. Die Karibikinsel ist auch der Fluchtpunkt von Deans Familienroman „Meine Väter“ (2003). In diesem findet der Sohn seinen Erzeuger tatsächlich. Er fliegt mit ihm nach Trinidad, um sich in einer genealogischen Recherche seiner Wurzeln zu vergewissern. Im aktuellen Roman Deans misslingt die Vatersuche insofern, als Filip in London nur noch das Grab seines Vaters besuchen kann. Er liegt unter einem Rosenstock auf dem Friedhof Golders Green. Sein Erbe besteht aus einem schäbigen Koffer – drin das reine „Nichts“.

An London fasziniert Filip der „Strom von Gesichtern aus tausenderlei Ländern“. Hier mischen sich „Einwanderer oder Nachfahren von Einwanderern“, „Menschen ohne Stammbaum, ohne Familiengeschichten, abgeschnitten, ausgesetzt und verpflanzt“. Filip arbeitet in einem Londoner Reisebüro, das sich auf den Schweiz-Tourismus spezialisiert hat. Man verkauft das Tessin als „Sonnenstube“, obwohl es dort in Wirklichkeit tagelang regnet und ein „großer Teil der Bevölkerung automobilverrückt, rückständig, fremdenfeindlich und provinziell ist“. Der Fremdenverkehr, der die Schweiz in eine „touristische Zone“ verwandelt, fördert auch die Hybridisierung des Landes. Die Inder kommen, weil sie die „Schweiz für eine Art Paradies, auf jeden Fall für eine saubere Alternative zu Indien halten“. Von den „Industriezonen, die ihren suizidalen Charme über die ganze Gegend legen“, kriegen sie natürlich nichts mit. Diese Schweiz ist das Land, aus dem die Nachricht dringt, dass Skinheads ein Asylbewerberheim angegriffen haben. Der Ort trägt den abschreckend einprägsamen Namen Affoltern.

Leitfrage der Schweizer Leitkultur: „Wo chonsch denn du här?“

Der Aufenthalt in London bietet Filip Gelegenheit, darüber nachzudenken, wie er in dieser Schweiz aufgewachsen ist. Der neue Freund seiner Mutter, ein Skilehrer namens Eugen, verflucht in Gegenwart des kleinen Filip die „Überfremdung“ der Schweiz. Der eine Lehrer konfrontiert ihn mit der Leitfrage der Schweizer Leitkultur: „Wo chonsch denn du här?“ Der andere hält Vorträge über den „Abschaum“, Langhaarige und Ausländer, an denen die Schweizer Gesellschaft zu ersticken drohe. Am Elternabend belehrt er die Mutter Filips, dass ihr Sohn den „Keim des Verdorbenen“ in sich trage. Wie man „abnormale“ Schüler vorführt, demonstriert auch der Zeichenlehrer, indem er Filip penetrant „Guru“ nennt: „Gut, gut, mein lieber Guru, aber wenn man bei euch in Hinterindien so zeichnet, dann wird auch in tausend Jahren nie ein Picasso aus euren Reihen kommen. Seid ihr denn farbenblind, da, wo du herkommst?“ In der Lehrerschaft wird Filip verdächtigt, „unordentlich“ und „triebgelenkt“ zu sein.

Dann kommt das Jahr 1972. Bei der Aufnahmeprüfung ins Gymnasium lassen die Lehrer den jungen Filip durchfallen. Er klaut die Klassenkasse und schnappt sich Madelon, die Tochter eines Professors aus Lausanne, um mit ihr durchzubrennen: „Wir taten, was zu verbieten das letzte Ziel unserer Lehrer war.“ In Calais werden die Ausreißer geschnappt und in die Schweiz zurückexpediert. Als Madelon schwanger wird, verhält sich der mit der Situation überforderte Filip nicht anders als sein eigener Erzeuger.

Maias Vater gehört zur Klasse derjenigen, denen das Fremde immer schon suspekt ist. Er findet es wichtig, dass das Schweizer „Volk“ die „Vorlage zur Bekämpfung von Missbrauch im Asylwesen“ angenommen hat. Kein Wunder, dass Filip glaubt, er lehne die Verbindung seiner Tochter mit ihm ab. Auch Maia wird schwanger, verliert das Kind aber bei einem Unfall auf einer Bergtour, die sie ausgerechnet mit diesem Vater unternimmt. Was genau passiert ist, übergeht der Roman. Maia und Filip tun das Verbotene und heiraten trotzdem – oder gerade deswegen.

Titelbild

Martin R. Dean: Ein Koffer voller Wünsche. Roman.
Jung und Jung Verlag, Salzburg 2011.
281 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783902497925

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