Bei Schmidts auf der Küchenbank

Neue Biografica: Der junge Arno Schmidt in Hamburg und der mittelalte in Darmstadt

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was Arno Schmidts Romane, Erzählungen und Essays angeht, liegen die großen Entdeckungen wohl hinter uns. Im Herbst 2010 ist die gesetzte Fassung des in jeder Hinsicht monumentalen „Zettel’s Traum“ erschienen. Damit dürfte die Ausgabe seiner Werke, die 25 Jahre Zeit in Anspruch genommen hat, im Wesentlichen abgeschlossen sein. Dafür werden nach und nach biografische Materialien zugänglich, die ein immer genaueres und differenzierteres Bild von Schmidts Leben ermöglichen. Zwei dieser Werke sind erst kürzlich erschienen – ein Band über Schmidts Jugend in Hamburg, und ein weiterer Auszug aus den Tagebüchern seiner Ehefrau Alice Schmidt.

Arno Schmidt ist so sehr zum sprichwörtlichen „Solipsisten in der Heide“ stilisiert worden, dass man sich gar nicht vorstellen kann, dass er 1914 in der Großstadt Hamburg geboren und dort im Arbeiterviertel Hamm aufgewachsen ist; erst nach dem Tod des Vaters – Schmidt ist 14 Jahre alt – zieht die Mutter mit den beiden Kindern in die schlesische Heimat der Familie. Joachim Kersten, unter anderem Anwalt der Arno Schmidt Stiftung und passionierter Vorleser der Werke „seines“ Autors, hat einen Band mit Texten und Bildern zu Schmidts Hamburger Jahren zusammengestellt. Kersten wendet sich bewusst nicht an den Forscher. Die Texte sind bereits anderweitig publiziert. Den Kern bildet ein Bericht Schmidts über seine Jugend, den er im Roman „Abend mit Goldrand“ von 1975 der Alter Ego-Figur Albrecht Ottokar Gläser in den Mund liegt. Dazu kommen Erinnerungen seiner Mutter und der Hamburger Mitschüler, die postum im Band „Porträt einer Klasse“ (1982) erschienen waren und hier wieder zugänglich gemacht werden, Dokumente zur Arbeit des Vaters als Polizist sowie Stellen aus Briefen und den literarischen Werken, die in Hamburg spielen. Das alles ist, wie gesagt, nicht neu. Aber in einer solchen konzentrierten Zusammenstellung hat man das bisher noch nicht gesehen. Der wirkliche Pluspunkt ist aber, dass Kersten die Texte liebevoll bebildert. Im Grunde ist ihm ein Gegenstück zum wegweisenden Bändchen „Wu hi?“ geglückt, in dem Jan Philipp Reemtsma und Bernd Rauschenbach, die beiden Herausgeber der Werkausgabe, Schmidts Spuren in der schlesischen Provinz der Jahre 1928 bis 1940 nachgehen. Dieses wirklich schön aufgemachte Buch wendet sich bewusst an ein breiteres Publikum und ist für alle interessant, die mehr über den Autor Arno Schmidt oder das Leben im Hamburg der Zwanziger Jahre erfahren möchten. Aber auch, wer das Hamburg der 1910er- und 1920er-Jahre erkunden will, ist hier gut bedient.

Ganz anders verhält es sich mit den Tagebüchern der Alice Schmidt, von denen die Stiftung in kleiner Auflage jetzt den dritten Teil publiziert. 1954 war das Jahr, in dem Schmidts von der Saar in die Lüneburger Heide und nach Ost-Berlin reisten, um Material für den Roman „Das steinerne Herz“ zu sammeln. 1955 wurde Schmidt wegen angeblicher Pornografie und Gotteslästerung in seiner „Seelandschaft mit Pocahontas“ angezeigt und zog mit seiner Frau Hals über Kopf nach Darmstadt, wo er mildere Richter zu finden hoffte. Nun also das „Tagebuch 1956“, das vor allem Alltag festhält: wir erleben das Ehepaar Schmidt beim Schuhkauf, beim Kochen, Waschen, Bügeln, und Übersetzen, beim Nähen, Katzenfüttern und beim Versand von Zeitungsessays, mit denen das Paar seinen Lebensunterhalt bestreitet.

Immer wieder geht es auch um „Das steinerne Herz“, das mittlerweile im Karlsruher Stahlberg-Verlag untergekommen ist. Alles könnte so schön sein, wollte nicht Lektor Ernst Krawehl um jeden Preis einen Skandal wie mit der „Seelandschaft“ vermeiden und Schmidt dazu bringen, alle „anstößigen“ Stellen (katholische Kirche, Sex, CDU) zu streiten. Die Folge ist, dass Schmidt und Krawehl erbittert um jede Formulierung streiten, was auch zum einen oder anderen Ehekrach führt. Susanne Fischer, die den Band wie auch schon die beiden Vorgänger vorzüglich ediert, vermutet denn auch, dass es ein solcher Streit ist, der Alice Schmidt zum Abbruch des Tagebuches bringt – ein Akt der Verweigerung, denn sie führt die Tagebücher nicht zuletzt als Materialsteinbruch für ihren Mann.

Was das „Tagebuch 1956“ zuhauf bietet, sind also Intimität und Alltag. Man fühlt sich bei der Lektüre mitunter, als würde man mit einer Tasse Nescafé beim Ehepaar Schmidt auf der Küchenbank sitzen und alles mithören, die schönen wie die peinlichen Momente. Wer sich für solche Minutiae interessiert und sich in Schmidts Werken auskennt, für den kann dieses Tagebuch ein Fest sein. Vor allem, weil es diverse Äußerungen in den Texten Schmidts in einem neuen Licht erscheinen lässt: So manches Lob in Essays und Briefen entpuppt sich als strategische Lobhudelei, die letztlich dem eigenen Wohl der Schmidts dienen soll. Vor allem fallen ihnen die ständigen Besucher auf die Nerven, von Ernst Kreuder bis zu den „Mäzenen“ Wilhelm und Erika Michels, die Schmidts mit Lebensmitteln versorgen und dafür (in ihrer Abwesenheit) mit virtuosen Lästereien überzogen werden („Das steinerne Herz“ widmet er Wilhelm Michels trotzdem). Wer sich für diese privaten Minutiae nicht interessiert oder sich in Schmidts Oeuvre nicht so gut auskennt, wird das Buch wohl gelangweilt zur Seite liegen. Dafür sind Alice Schmidts Einträge schlicht nicht ambitioniert genug – und sollten es auch gar nicht sein.

Als Bonbon liegen dem „Tagebuch“ zwei CDs bei, auf denen Schmidts einzige öffentliche Lesung dokumentiert ist – im Frühjahr 1956 trägt er die frühen Erzählungen „Gadir“ und „Leviathan“ in Wilhelm Michels’ Waldschule in Schönberg/Taunus vor. Schon das macht das „Tagebuch 1956“ zu einem echten Ereignis für Schmidt-Liebhaber.

PS: Falls jemand in Bargfeld mitliest – wie wäre es denn mal mit einer Re-Issue sämtlicher Tonaufnahmen, die es vor 20 Jahren unter dem Titel „Arno Schmidt liest“ für kurze Zeit bei Zweitausendeins gab? In Zeiten, in denen es von jedem ollen Rockalbum der 1970er-Jahre überteuerte Deluxe-Boxen mit 12 Bonustracks und 35 Remixen gibt, müsste das doch wohl möglich sein? Im Moment liegen die kompletten Aufnahmen nur dem Supplementband II der Bargfelder Ausgabe bei, der für den interessierten Laien eine recht große Anschaffung ist. Bis dahin: liebe Leser, löchern Sie Ihre örtliche Bibliothek!

Titelbild

Joachim Kersten (Hg.): Arno Schmidt in Hamburg.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2011.
168 Seiten, 22,99 EUR.
ISBN-13: 9783455403459

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Alice Schmidt: Tagebuch aus dem Jahr 1956.
Herausgegeben von Susanne Fischer.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
213 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518803301

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch