Unheile Welt

Über Josef Bierbichlers Generationenroman „Mittelreich“

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Roman beginnt mit der Beschreibung einer Idylle irgendwo auf einem Bauernhof an einem oberbayerischen See im Jahr 1984, nicht weit weg von der „Hauptstadt“, mit Spatzen, einem Kater und dem alten Viktor, der die Vögel füttert, mit Junihitze, ländlicher Nachmittagsstille und leisen Kinderstimmen im Schuppen nebenan. Diese ländlich-ruhige Stimmung wird jäh durch den Knall eines Überschall-Kampfflugzeugs unterbrochen: ein „minutenlang verebbendes, nicht mehr enden wollendes Maschinendonnergrollen am Himmel“. Die Vögel und der Kater flüchten in alle Richtungen. „Ein orientierungslos gewordener Eichelhäher, der sich im Sturzflug auf die Stahlbetondecke der Jauchegrube geworfen hat, bleibt tot in einem kleinen Blutfleck liegen.“

Die Anfangsszene aus friedlicher Natur und plötzlichem Tod verweist auf die Brüchigkeit all dessen, was in „Mittelreich“ erzählt wird: Was als heile dörfliche Welt daherkommt, kann trügerisch sein; die Menschen verbergen ihr wahres Gesicht; ihre Frömmigkeit ist manchmal nichts anderes als Bigotterie; hinter ihrem Lachen verbergen sich vielleicht Angst und Verzweiflung und ihr Leben ist oft nichts anderes als eine armselige Lebenslüge.

Die letzten Buchseiten greifen auf den Romananfang zurück und schließen den Erzählrahmen. Viktor spürt, dass er am Ende seines über 80-jährigen Lebens angekommen ist. Er will seinen Tod, verweigert jede Nahrungszufuhr und stirbt fünf Tage später. „Die Erde ist keine Heimat“ lautet die vorletzte Zeile des Romans: ein melancholisch-düsterer Schluss, der wenig Zuversicht und Hoffnung zulässt.

Viktors Leben ist eng mit der Geschichte der Familie des Seewirts verwoben. Mit seinem Tod endet nicht nur das Leben eines alten Mannes, den es nach dem Krieg als Flüchtling aus Schlesien in das kleine oberbayerische Seedorf verschlägt und der vierzig Jahre als Knecht und Gehilfe auf dem großen Bauernhof und in der Gaststätte des Seewirts arbeitet und dort sein Zuhause findet. Mit seinem Tod endet auch die fast 80-jährige Geschichte der Seewirtsfamilie. Die drei Generationen dieser Bauernfamilie stehen im Zentrum des Romans. Ihr Schicksal durchzieht das Buch wie ein roter Faden.

Der Roman zeigt den Aufstieg des Vaters des Seewirts zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem wohlhabenden Bauern, der mit seinem Hof am See zu den angesehenen Bürgern von Seedorf gehört und mit seinem Seehotel Gäste aus der Hauptstadt anlockt. Er schildert die erfolgreichen Bemühungen des Sohnes, eine Familie zu gründen, in den Nachkriegsjahren Stück um Stück das Anwesen auszubauen und zu Wohlstand zu gelangen. Er beschreibt den anfangs kaum merklichen, dann aber immer schnelleren unaufhaltsamen Abstieg der Familie: zuerst die Enteignung der Streuobstwiesen zwischen Hof und See, dann das langsame Auseinanderleben der Eheleute, die zunehmende Entfremdung zwischen Eltern und Kindern, die wachsende Erfahrung der Älteren im Dorf, dass unwiderruflich eine neue Zeit angebrochen ist, in der nicht nur die Handarbeit auf dem Hof und auf den Feldern durch Maschinen ersetzt wird, sondern in der ebenso die alten Werte, die immer noch für unverbrüchlich gelten und gelebt werden, bedeutungslos geworden sind. Und das Buch schildert in schockierenden Szenen die seelische Zerstörung des Sohnes der Seewirtsleute, von Semi, der als Kind im Klosterinternat Opfer sexuellen Missbrauchs durch einen Pater wird und der sich später als junger Erwachsener, emotional verstört, von seinen Eltern, denen er vorwirft, ihn in seiner Kindheit verraten und im Stich gelassen zu haben, abwendet und seine Zuflucht in Alkoholexzessen sucht.

Bierbichler verknüpft diese Generationenroman-Motive mit zeitgeschichtlichen Abschweifungen und Schilderungen. Der Roman „füllt“ sich buchstäblich mit Geschichte auf und spielt immer auf mehreren Erzähl- und Sinnebenen. Die Familiengeschichte, die vor dem Ersten Weltkrieg beginnt und mit dem Tod Viktors und des Seewirts abbricht, lässt die Jahrzehnte der Handlung in ihren vielfältigen Erscheinungsformen lebendig werden. Familiengeschichte und Zeitgeschichte vermischen sich. Die Einstellungen, mit denen die bäuerlichen Menschen auf die Vergangenheit und die Zeiterscheinungen reagieren, sind typisch für die Geisteshaltung vieler Deutscher gegenüber dem „Dritten Reich“, der Nachkriegszeit und den modernen „Errungenschaften“. Diese Vielschichtigkeit macht aus der Familiengeschichte des Seewirts ein Spiegelbild großer Teile der deutschen Gesellschaft in der Vor-Nazi-Zeit, während des „Dritten Reichs“, über die Adenauerzeit hinaus bis in die 1970er- und 1980er-Jahre hinein. Dem Autor gelingt es auf beeindruckende Weise, in den Geschichten über die einfachen Leute in Seedorf, über den Seewirt, seine Familie und das Gesinde, das zu seinem Bauernhof und Gastwirtschaftsbetrieb gehört, die weltgeschichtlichen Ereignisse mit großer Genauigkeit und Dramatik aufscheinen zu lassen. Familiengeschichte als Zeitgeschichte und Epochengeschichte – das ist nicht neu. Aber die Selbstverständlichkeit, mit der Bierbichler das Kleine mit dem Großen, das Dörfliche mit dem Überregionalen, das Weltliche mit dem Geistlichen, das Gute mit dem Bösen, das Ernste mit dem Komischen und die verschiedenen Zeitebenen miteinander verbindet, zeugt von seiner erzählerischen Kraft und seiner Fantasie und macht „Mittelreich“ zu einem packenden Roman.

Das Buch erreicht seine besondere literarische Wirkung durch die Sprache, durch Bierbichlers Gespür für den abwechslungsreichen episodenhaften Aufbau der Handlung, durch einen „heimatbewussten“ Erzähler und durch eine Fülle eindringlicher, bisweilen schockierender und aufwühlender Szenen. Die Sprache wird durch die Mischung beschreibender und poetisch-bildhafter, ironischer und satirischer Sprachelemente zu einer expressionistischen Kunstsprache. Sie gibt der Handlung etwas leicht Antiquiertes und Distanzierendes. Vergleiche, Wortschöpfungen wie „Frauenkörpersehnsucht“ oder „Menschenum- und- unformschmiede des Klosters“ und Sätze voller Sarkasmus wie: „Das Leben wurde sicherer. Aber die Verunsicherung wuchs.“, oder: „Ich war zwar nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nie.“ sind typisch für den Bierbichler’schen Stil. Dem Autor genügen wenige Sätze, um die Zeit mit ihren politischen Umwälzungen und gesellschaftlichen Stimmungen auf den Punkt zu bringen: „Der neue Staat war auch gerade fertig gegründet worden, Konrad hieß der neue Adolf, und die neue Mark begann nach und nach ein glänzendes Fett anzusetzen.“ Die kantige, rhythmisch-flüssige bilderreiche Sprache ist ein Leseerlebnis. Zu Recht ist das Hörbuch „Mittelreich“, von Bierbichler selbst unübertroffen gelesen, vom Hessischen Rundfunk ausgezeichnet worden.

Entscheidend für die Wirkung des Romans ist auch sein rhythmisch abwechslungsreicher Aufbau. Beschreibende, zeitraffende Passagen lösen sich mit szenisch ausgestalteten und zeitdehnenden ab, monologisierende Abschnitte mit dialogischen Szenen. So gelingt es Bierbichler, das Auf und Ab der Leben dreier Generationen, ihre Zeit, ihren Lebensraum und ihren Alltag darzustellen. Der Roman hat etwas nach vorne Drängendes, eine Bewegung, die sich unaufhörlich beschleunigt und mit Macht, wie es scheint, auf einen Endpunkt hinführt. Die Figuren der Familienerzählung sind Getriebene, ohne dass sie dies merken. Sie sind eingebunden in Traditionen, landschaftlich geprägte Verhaltensnormen und Lebensentwürfe und Lebensmuster, die ihnen kein individuelles Handeln ermöglichen. Fast alle Figuren sind am Ende ihres Lebens Gescheiterte und Verlorene. Menschen, die vom Leben an den Rand gedrängt werden, deren Lebenshoffnungen unerfüllt bleiben und deren Lebenserwartungen enttäuscht werden. Sie sind in ihren Geisteshaltungen gefangen und können aus der Enge und der Verlorenheit ihres Lebens – vom „verfluchten Zwang“ ist die Rede, vom „verfluchten Erbe“ – nicht ausbrechen. Bierbichlers Buch hat etwas tief Melancholisches und auch Pessimistisches.

Vielleicht bleibt nur eine Figur von schlimmen Enttäuschungen und Schicksalsschlägen verschont: die Alte Mare, ein Leben lang Kindermädchen, Köchin und Magd im Seewirtshof. Ihr gestattet der Erzähler einen Tod, der den meisten anderen Figuren, die durch Selbstmord gewaltsam enden, nicht gewährt wird: Sie stirbt friedlich in ihrem Sessel während der Fernsehübertragung der Wahl des neuen Papstes Johannes XXIII. im Jahre 1958. In typisch Bierbichler’scher Erzählmanier wird daraus eine kleine liebevoll-groteske Szene. Die Alte Mare entschwindet quasi durch den Fernsehapparat zum Papst auf den Petersplatz in Rom. Sie ist „noch in der Nacht in den Himmel aufgefahren“.

Der Erzähler im Roman ist der etwas aus der Mode gekommene allwissende Erzähler, der die Zeitepochen überblickt und den vertrackten Lebenswegen der einzelnen Figuren, auch der Nebenfiguren, nachforscht und nachgeht. Der Erzähler kennt die Menschen und die Ereignisse, über die er berichtet. Er ist einer von Seedorf, wirft den untrüglichen dörflichen Blick auf den Alltag seiner Figuren und die Welt insgesamt. Der Roman wirkt dadurch authentisch. Die Erzählperspektive ist allerdings nicht ganz eindeutig. Besonders gegen Ende des Romans gewinnt der Leser den Eindruck, die Geschichte werde aus der Sicht des Sohnes des Seewirts, aus der Sicht Semis, erzählt, dessen Schicksal im Roman besonders eindringlich dargestellt wird.

Vielschichtig sind die Tonlagen des Erzählers. Sie reichen von nüchternen Beschreibungen über komische Szenen bis hin zu ironischen, satirisch-bissigen und grotesk-absurden Schilderungen. Immer wieder wird die kritische Haltung des Erzählers deutlich, der Bigotterie, Abgestumpftheit, Biertischmentalität, politischen Konformismus und latente Gewaltbereitschaft anprangert. Hinter der Fassade rechtschaffener Durchschnittlichkeit entdeckt er eine Biederkeit aus Nichtwissen, Desinteresse und Voreingenommenheit, die zu vorschnellen Urteilen führt und mit deren Hilfe die Welt von den Dörflern nach vorgefertigten Stereotypen und klischeehaften Mustern so zurechtgerückt wird, dass es sich leben lässt.

Der Roman enthält eine Fülle von Szenen, die sich im Gedächtnis des Lesers festsetzen: zum Beispiel Tuceks Geschichte von Flucht und Vertreibung sowie die Geschichte des Seewirts, die von der Vergasung der Kinder in einem Essenswagen der Wehrmacht gegen Ende des Zweiten Weltkrieges handelt; der Jahrhundertsturm, der das Leben der Menschen im Seewirtsgasthof entscheidend verändert; die Schilderung des verkümmerten Lebens des Fräuleins von Zwittau und ihres traurigen Endes; der Missbrauch des Kindes Semi in einem Kloster-Internat, später seine „Rache“ an seiner Mutter und sein „totes Kellerlochgesicht“ als Ausdruck seiner Hoffnungslosigkeit.

Typisch für Bierbichlers Kunst, in einer Szene Tragisches mit Komischem und Groteskem und Alltägliches mit Heroischem zu verbinden, ist ein Vorfall, der den Knecht und eine kleine Ente betrifft: Das Entlein ist in die Jauchegrube gefallen; alle stehen am Rand der Grube herum und bedauern das Tier, aber keiner weiß, wie ihm zu helfen ist. Da kommt der alte Sepp, Knecht auf dem Seewirtshof, steigt ohne Zögern in die stinkende Brühe der Odelgrube und rettet das verängstigte Tier. Anschließend wird es – ganz lapidar wird das erzählt – von der Hausfrau gereinigt, getötet und zu einem Braten zubereitet: „zur Feier des glücklichen Ausgangs dieses Ereignisses“.

Josef Bierbichler ist ein begnadeter Erzähler, einer, der im Alltäglichen das Grotesk-Komische sieht, der hinter den Heile-Welt-Fassaden, mit denen die Dorfleute, die Zugezogenen und die Gäste ihr Leben in der Gemeinde Seedorf abzuschirmen versuchen, das Unheilvolle und Unfriedfertige erkennt, das unerträglich Frömmelnde und das Verlogene, der den Figuren die Biedermannmaske herunterzieht.Den bequemen Unterhaltungs-Mittelweg beschreitet der Autor in keiner Zeile des Buches.

Kritisch und sprachgewaltig kennt man Bierbichler auch als Verfasser von Kolumnen in der Monatszeitschrift „Theater der Zeit“. Gegenüber Menschen auf dem Theater, gegenüber Theater überhaupt und seinem politischen Umfeld nimmt er Positionen ein, die außerhalb des leichthin Akzeptierten und Ungeprüften liegen. So verfasste er einen scharfen Kommentar zur Einladung und dann Ausladung des Intellektuellen Jean Ziegler durch die Leitung der Salzburger Festspiele im Sommer 2011. Und seine Kolumne zu den Nachrufen auf den Tod des Regisseurs Christoph Schlingensief im August 2010 ist eine einzige Tirade verächtlicher Äußerungen gegenüber den falschen Lobhudlern des Regisseurs, den Bierbichler besonders geschätzt hat.

Mit seiner Rollenauswahl hat sich Bierbichler ebenfalls in den letzten Jahren in Filmen („Das weiße Band“) und Bühneninszenierungen hervorgetan, die manchmal brisant und hochpolitisch waren und den gängigen Erwartungen mancher Besucher zuwiderliefen. So spielte er 2006 in einer Uraufführung seines Monologstücks „Holzschlachten. Ein Stück Arbeit“ den ehemaligen KZ-Arzt Hans Münch, der sich über Jahrzehnte hinter dem falschen Etikett „guter Mensch von Auschwitz“ verstecken konnte: Der Schauspieler Bierbichler spaltet wie ein Besessener auf der Bühne Holzstämme und redet dabei ohne Schuldgefühle, kalt und gefühllos über die Vernichtungsmachinerie der Nationalsozialisten. Der Redeschwall verrät mehr über die unverbesserliche Haltung bestimmter „Biertischdenker“, als es soziologische Analysen vermöchten.

Zu dieser Uneinverstandenheit und Kritikbereitschaft des Romanautors, Kolumnenschreibers und Film- und Theaterschauspielers Bierbichler passt eine Äußerung aus einem Interview kurz nach Veröffentlichung des Romans: „Meine politische Haltung hat sich in den Jahren nicht groß verändert. Ich sage es vielleicht nicht mehr so oft. Aber ich gehöre nicht zu den Wendehälsen, die 1989 aus allen Ecken gewachsen sind wie die Brennesseln aus einem Rübenacker. Ursprünglich wollte ich das Theater benutzen, um meine politische Haltung zu demonstrieren, um Wirkung zu erzielen – da habe ich irgendwann gemerkt, dass das nicht gelingt. Das System des Kapitalismus zweifle ich trotzdem an.“

Titelbild

Josef Bierbichler: Mittelreich. Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
392 Seiten, 22,90 EUR.
ISBN-13: 9783518422687

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