Weit mehr als halbgares Siebenzwöftelwissen

Zu Sarah Kuttners Roman „Wachstumsschmerz“

Von Thomas NeumannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Neumann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorurteile hat man immer. Natürlich auch einem neuen Roman von Sarah Kuttner gegenüber. Oder besser: Vor allem einem Roman von Frau Kuttner gegenüber. Warum das so ist, dass liegt nicht nur an der Tatsache, das sie den meisten zuerst über die Radiosendung ihres Vaters Jürgen Kuttner in den Wahrnehmungsradar getreten ist. Es liegt auch an ihrer Tätigkeit als VIVA-Moderatorin, an der ganzen Sozialisation ihres Autorinnenlebens. Allerdings sei einem dabei immer der Hinweis von prominenter Stelle im Ohr, eine Autorin habe sich zu entscheiden, ob sie als Werk oder als Person existieren wolle. Diese Entscheidung ist für eine Schriftstellerin in den heutigen Zeiten von aggressiven Vermarktungsstrategien und ausgefeilten Promotionkampagnen auf dem Buchmarkt nicht eben einfach zu entscheiden. Frau Roche zum Beispiel hat sich für die Existenz als „Person“ entschieden.

Sarah Kuttner scheint mit ihrem Buch aber für die Variante „Werk“ zu optieren. Anders kann man die vorliegenden knapp dreihundert Seiten kaum interpretieren. Beschrieben wird ein junges Paar Mitte 20. Beide sind schon etwas länger befreundet, und der nächste Schritt in ihrer Beziehung ist eine gemeinsame Wohnung. Dieser Schritt ist auf beiden Seiten mit Zögerlichkeiten und Bedenken behaftet. Die Protagonistin Luise gibt zu bedenken: „Was ich brauche ist ein Gefühl von Sicherheit, die Bestätigung, dass wir das Richtige machen. Wenn Flo mir das nicht geben kann, muss ich damit leben, aber ich werde nicht auch noch seine Ängste zu meinen hereinlassen, damit sie gemeinsam runter zum Spielen gehen können.“ Neben diesen treffend beobachteten Einblicken in die Zweisamkeit schildert Kuttner in manchmal brillanten, scheinbar lässigen Formulierungen scharf beobachtete literarische Pretiosen: „Die Schule ist die letzte Kette, die uns an ein scheinbar fremdbestimmtes Leben bindet.“ Gebrochen und reflektiert wird die Geschichte des Paares durch kleine, in die Kapitelfolge eingeschobene „Memos“.

Die „Memos“ fallen aus der Chronologie, bezeichnen eine andere Zeitebene. Hier wird von Anfang an gleich klar gemacht, dass die beschriebene Beziehung schon beendet ist. Luise ist in einer leeren Wohnung und erinnert sich an die gemeinsame Zeit. „Jedes Mal wenn ich Dinge berühre, die dir gehören, hoffe ich, mit den Fingern eine Stelle zu treffen, die du auch berührt hast. Als könnten deine Fingerabdrücke eine Art Wurmloch sein, das mich, wenn ich es nur an der richtigen Stelle treffe, direkt zu dir katapultiert.“ Diese „Dokumente des Scheiterns“ werden mit kleinen Einschüben aus dem Bereich der Popkultur angereichert, wenn zum Beispiel „,Likely Lads‘ von den Libertines“ erwähnt wird.

Es sind eigentlich bekannte Verhaltensmuster, die Kuttner ihre Protagonisten sagen lässt: „,Wir werden das schon nicht versauen, oder?‘, fragte ich leise.“ Aber sie schafft es, diese eigentlich schon fast abgeleierten Sprüche, die aber offensichtlich so etwas wie kulturelle Standards in Beziehungen sind, in die sensible Beschreibung einer Beziehungsgeschichte zu montieren. Und jeder, der vielleicht schon mehr als eine Beziehung hinter sich hat, versteht den Dialog, der in der präzisen Beobachtung und Beschreibung kaum zu übertreffen ist: „,Möchtest du mich heiraten?‘, frage ich Flo und erkenne an Peter Pans panischem Gesicht, dass meine Frage nicht eindeutig ist. ,Ich meine nicht demnächst. Das hier ist kein Antrag. Ich meine generell. Bimmelt dein Herz auf eine ‚Das ist die Richtige‘-Art für mich? Auf eine ‚Mit der will ich Kinder haben‘-Art?‘“

Zu allem Überfluss gibt es auch noch ein spektakuläres Ende, was sicherlich die Erwartungshaltungen mancher Leser enttäuschen wird, den literarischen Qualitäten des Romans allerdings zuträglich ist: „Und dann drehe ich mich wortlos um und gehe. Dies hier ist eben doch nicht mehr als die Übergabe von Kleidung, keine Hintertür, kein Versuch. Es ist, was es ist, und was es ist, ist kalt und furchtbar. Und auch Flo besteigt kein weißes Pferd, sondern schließt die fremde Wohnungstür leise hinter sich.“

Mit ihren sensiblen Beschreibungen und hoher sprachlicher Kompetenz schafft Kuttner es, den Text von einem individuellen Szenario in ein allgemeingültiges Paradigma zu transzendieren – ohne das die Romanfiguren an ihren individuellen Charakterzügen verlieren. Mit „Wachstumsschmerz“ gelingt der Wechsel in die Literatur. Das war so nicht zu erwarten.

Titelbild

Sarah Kuttner: Wachstumsschmerz. Roman.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
280 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783100422064

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