Immer dasselbe, immer anders

Herta Müller hat 2009 den Literaturnobelpreis erhalten. In ihren kleinen Schriften legt nun sie ihre Poetologie offen

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Romane Herta Müllers gehören zum Größten, was die deutschsprachige Literatur im späten 20. Jahrhundert hervorgebracht hat. Seit ihren frühen, Mitte der 1980er-Jahren noch bei Rotbuch in Berlin erschienenen Texten sind es zwei Themen, die bei Herta Müller immer wiederkehren – die nie endende Gewalt der Diktatur in Rumänien und die nie endende Ankunft in einer neuen, diesmal deutschen Gegenwart.

„Reisende auf einem Bein“ war einer der großartigsten Berlin-Romane der späten 1980er-Jahre. „Der Fuchs war damals schon der Jäger“, 1992 bereits bei Rowohlt erschienen, ist ein Roman, in dem die Diktatur durch die Sprachmacht Herta Müllers gebannt zu sein scheint. Jetzt ist die Autorin bei Hanser angekommen und hat mit „Atemschaukel“, 2009 erschienen, ihr wohl außergewöhnlichstes, eines ihrer wichtigsten und besten Bücher, zugleich aber auch ihr untypischstes geschrieben. Ein Roman über den Gulag, auf der Basis der Erinnerungen ihres langjährigen Freundes Oskar Pastior. Also kein Roman über ein Nazi-KZ, sondern eines der sowjetischen Straflager nach 1945. Und eben kein Erinnerungsbuch, sondern ein Roman.

Die Essays in dem Band „Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel“, 2011 bei Hanser erschienen, stehen zweifelsohne im Bann des großen Romans, und sie stehen im Bann des Sündenfalls Oskar Pastiors, der eben nicht nur ein Verfolgter des rumänischen Regimes war, sondern sich auch der Securitate, dem staatlichen Geheimdienst, verpflichtete. Ein großer Autor zu sein, schützt nicht vor der Schutzlosigkeit, zumal nicht den jungen Oskar Pastior, der aus der Lagerhaft in eine Diktatur entlassen wurde, die nicht aufhören sollte ihn zu beobachten. Kein Heldenstück, aber eben auch kein Anlass, Pastiors Biografie und Werk zu verwerfen. So zumindest das Fazit der Bemühungen Herta Müllers um Pastior, der wie sie Rumänien verließ, um ein großer Autor in Westdeutschland zu werden. Die intellektuelle Brillanz und die schwelgende Lust am Textgebilde ist den Werken Pastiors jedenfalls sind auch mit dem Wissen um seine Schwäche nicht abzustreiten.

Lässt man die Besprechungen und Gelegenheitstexte beiseite, die den Band Müllers auf sein Volumen bringen, drehen sich die Essays Müllers vor allem um den Alltag der rumänischen Diktatur, um die stets schwelende Bedrohung, die jederzeit akut werden konnte und es immer wurde, und um Fragen der Verarbeitung. Die Willkür, mit der der Geheimdienst ins Private seiner Opfer eindrang, die Zeichen, die er ihnen in ihren Wohnungen hinterließ, die Verfahren, die er bei seinen Verhören anwandte, die Drohungen, die er ausstieß: Es ist ein merkwürdiger Zeichenraum, den Müller hier entwirft, und ihre Essays drehen sich um sein offenes Zentrum – die Gewalt gegen das Volk aus den Reihen der Volksherrschaft.

Dieses Thema geht sie mal offen, mal verdeckt an, und dieser Stilwechsel tut den Texten nicht immer gut. Es geht zu Lasten der fragilen Sprache Müllers, die mit Bildern, Bedeutungen und Worten umzugehen vermag wie keine zweite in der deutschsprachigen Literatur.

Aber sie kann auch anders: Texte wie „Jedes Wort weiß etwas vom Teufelskreis“, mit dem der Band eröffnet wird, kommt nur deshalb auf den Kern von Sorge und Fürsorge, weil Müller hier nicht direkt auf ihr Thema kommt, sondern ihre Sätze ihren Weg erst finden lässt. Und der führt zur Funktion des Schreibens, und damit mitten in das Herz dieser Literatur: Denn das Schreiben ist der Ausflucht dessen, der nichts sagen darf: „Schreiben ist ein stummes Tun, eine Arbeit vom Kopf in die Hand“ und damit eben sehr privat.

Beim Schreiben jedoch werde aus den Worten etwas anderes, dann nämlich, wie Müller im titelgebenden Essay schreibt, „wenn sich die Gegenstände selbständig machen und Sprachbilder sich diebisch nehmen, was ihnen nicht gehört“. Damit öffnet Herta Müller den Horizont der Bedeutungen, nicht weil ihren Sprachbildern die Präzision fehlen würde. Präzision kann hier zumal nur jemand fordern, dessen Verhältnis zu Sprache vorkritisch und vormetaphorisch ist, also aus einer Zeit vor Herta Müller stammt.

Herta Müller hat das Vertrauen in die Sprache verloren, jedenfalls was ihr Verhältnis zur Bedeutung, sagen wir, zur Wahrheit angeht. Erst mit der Arbeit an der Sprache beginnt sie, sich der Wirklichkeit – was immer das sein mag – überhaupt erst anzunähern.

Dieses Verständnis von Authentizität ist keineswegs naiv, sondern in höchstem Maße aufgeklärt. Für das Verhältnis von Erlebtem und Geschriebenem ist das jedenfalls zentral, denn für Herta Müller verschwindet das Erlebte in der Zeit, so in den Anfangspassagen von „So ein großer Körper und so ein kleiner Motor“, um dann umso grandioser in der Literatur wieder aufzutauchen. Das wirklich Erfundene müsse sich das wirklich Geschehene vorstellen können.

Einmal soweit gekommen, wäre die Einsicht nicht weit, dass das Authentische das ist, was am besten erfunden wurde, immer im Blick auf eine Wirklichkeit, die zur Kenntlichkeit entstellt werden muss. Für die Erfahrung einer Diktatur ist das eine ebenso große Aufgabe wie für die Erfahrung des Lagers. Herta Müller hat in ihren Romanen gezeigt, dass sie beides künstlerisch zu bewältigen weiß. Und etwas anderes geht uns nichts an. Dass sie darüber hinaus in diesen Texten Fragmente ihrer eigenen Poetologie offenlegt, ist ihr zu danken. Unser Job ist es wahrscheinlich, daraus ein System zu machen und ihrer, daraus gute und immer bessere Bücher zu schreiben.

Titelbild

Herta Müller: Immer derselbe Schnee und immer derselbe Onkel.
Carl Hanser Verlag, München 2011.
250 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783446235649

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