Die Spitze der Nahrungskette

Judith Schalansky erzählt von der Lehrerin Inge Lohmark, die ihre Schüler mit dem Sozialdarwinismus quält

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Anfang ist noch alles in Ordnung, und die Lehrerin hat alles im Griff: „,Setzen‘, sagte Inge Lohmark, und die Klasse setzte sich. Sie sagte ‚Schlagen Sie das Buch auf Seite sieben auf‘, und sie schlugen das Buch auf Seite sieben auf“. Inge Lohmark steht ganz oben in der Pyramide: „Zwischen den Lebewesen herrscht Konkurrenz. Und manchmal auch so etwas wie Zusammenarbeit. Aber das ist eher selten. Die wichtigsten Formen des Zusammenlebens sind Konkurrenz und Räuber-Beute-Beziehungen.“

Inge Lohmark ist seit dreißig Jahren Biologie- und Sportlehrerin an einem Provinzgymnasium in einer Kleinstadt in Vorpommern. Ihre Schule wurde nach Charles Darwin benannt, und das ist programmatisch für den ganzen Roman: „Bei Inge Lohmark gab es kein Mitspracherecht. Niemand hatte eine Wahl. Es gab die Zuchtwahl und sonst nichts.“

Denn Inge Lohmarkt predigt den Sozialdarwinismus, sie verachtet ihre zwölf Schüler in der neunten Klasse, in der sie Klassenlehrerin ist, und die sie möglichst kleinzuhalten und zu demütigen versucht. Sie verachtet auch ihre Kollegen, den Direktor und den Busfahrer, ihre Nachbarn in dem Dorf, in dem sie wohnt, und das neue Deutschland nach der Wende. Es ist die letzte neunte Klasse dieser Schule, die, wenn alle Kinder ihren Abschluss gemacht haben, geschlossen werden soll. Es gibt nämlich keinen Nachwuchs mehr für das Gymnasium, weswegen irgendwer ein Graffito an der Mauer angebacht hat: „Das Darwin stirbt aus.“

Lohmark kennt keine Zärtlichkeiten oder Rücksichtnahmen, sie bewertet ihre Umwelt nach einem unbarmherzigen Muster, sieht ihre Schüler als „Parasiten am gesunden Klassenkörper“ und „Landwirbeltiere im Wachstum“ und ordnet sie in Schubladen ein, aus denen sie nie wieder herauskommen, der Sitzplan der Klasse auf Seite 20 zeigt dies deutlich – Jennifer: „von Geburt an selbstsüchtig“ und mit „skrupelloser Oberweite, Wettbewerbsbusen“, Saskia: „stullendummer Ausdruck“, Kevin: „stupide, aber fordernd – die schlimmste Kombination“, Tom: „ein Grottenolm war schöner“, Annika: „vortragsgeil“, Erika: „gepflegte Traurigkeit in geneigter Haltung“, Ellen: „dumpfes Duldungstier“.

Langsam kristallisiert sich heraus, dass Inge Lohmark weder an der Spitze der Nahrungskette steht noch auch nur ansatzweise glücklich ist. Natürlich verklärt sie die DDR ein wenig, wenn auch nicht so schlimm wie ihr Kollege Thiele, natürlich war sie bei der Stasi wie andere auch, und ihren Mann Wolfgang, den ehemaligen Kuh-Besamer, der erfolgreich Strauße züchtet, sieht sie fast nie. Natürlich hat sie auch einmal ein Verhältnis mit einem anderen Mann gehabt und eine Abtreibung: „Man blieb ohnehin nur deshalb zusammen, weil die Aufzucht der Jungen unendlich aufwendig war.“

Und natürlich ist ihre Tochter Claudia seit Jahren in den USA, ruft selten an und kündigt ihre bevorstehende Hochzeit in einer Mail an – Inge Lohmark antwortet nicht darauf: „Das tote Ende einer Entwicklung. Aber die Strauße sahen ihre Küken ja auch nie wieder. Im Tierreich kam man sonntags nicht zum Kaffeetrinken vorbei.“

Judith Schalanskys Roman ist als „Bildungsroman“ untertitelt. Das verweist einerseits auf die Bildungsmisere in der ostdeutschen Provinz, in der immer mehr Schulen geschlossen werden, andererseits auf die soziale Entwicklung der Protagonistin, die vom Rektor Kattner einmal mitten in einer Stunde herauszitiert wird, der ihr vorwirft, nicht gemerkt zu haben, dass ihre Schülerin Ellen, die Schwächste, systematisch gemobbt und gequält wurde, und ihr „Konsequenzen“ androht. Erst jetzt gibt es Ansätze von Reflektion und von Gefühlen bei der Protagonistin. Denn einerseits fällt Lohmark ein, wie ihre Tochter früher einmal, als sie klein war, mitten im Unterricht weinend auf sie zukam, und sie sich, die damals als Lehrerin und Mutter eine Doppelrolle hatte, statt als Mutter nur als neutrale Lehrerin verhalten hatte. Damals hatte sie das Kind zurechtgewiesen und die Disziplin wieder hergestellt statt sie tröstend in den Arm zu nehmen. Und andererseits fühlt sie sich jetzt ganz unversehens zu einer Schülerin hingezogen und beginnt, fast menschliche Gefühle zu entwickeln.

Was den Roman so eindringlich macht, ist der sarkastische und sich auf großen Umwegen an Lohmarks wirkliche Emotionen annähernde Sprache, mit der aus ihrer Perspektive erzählt wird. Man kann sich gut mit ihr über die inkompetenten Lehrer und die dummen Schüler amüsieren, wenn Lohmark sie immer wieder mit biologischen Bezeichnungen und Bildern beschreibt. Man bekommt aber auch immer mehr Mitleid mit dieser so sehr in sich verschlossenen Lehrerin, die aus ihrer Haut nicht heraus kann. Und ihre darwinistischen Spruchweisheiten erweisen sich mehr und mehr als bloße Worthülsen, hinter denen sich Lohmark versteckt. Am Schluss des Romans aber steht sie an einem Zaun und schaut. Sie beobachtet die Strauße und die Krähen, und die Sprache wird plötzlich poetisch. Ein schönes, offenes Ende, bei dem man nicht weiß, ob sich nicht doch noch mehr bewegen wird bei Lohmark. Und vielleicht sogar in der ostdeutschen Provinz.

Titelbild

Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe. Bildungsroman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2011.
222 Seiten, 21,90 EUR.
ISBN-13: 9783518421772

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