Fragmente eines Diskurses der Gewalt

Thomas Bernhards violentistisches Schreibprojekt

Von Nico Schulte-EbbertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nico Schulte-Ebbert

„Keine Zeit könne man“, so heißt es in Thomas Bernhards 1970 erschienenem Roman „Das Kalkwerk“, „wie die heutige, mit größerem Rechte als die Zeit des Gewaltverbrechens bezeichnen, […].“ Sicherlich kann dieses Urteil – Steven Pinker möge widersprechen – auch auf das Jahr 2012 angewendet werden. Gewalt dringt in ihrer physischen Manifestation spätestens mit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 in all ihrer diffusen anachronistischen Mannigfaltigkeit und mit längst überwunden geglaubter Brutalität ins Alltagsleben des Menschen des 21. Jahrhunderts ein. Seither scheinen die Medienberichte über Selbstmordattentate, über religiöse Fundamentalisten, über Amokläufe, Kindstötungen und Inzestfälle mythologischer Couleur zugenommen zu haben – oder wie es schon der Anwalt Moro in Bernhards 1968 erschienener Erzählung „Ungenach“ ausdrückt: „das Wort Gewaltanwendung rennt durch die Spalten der Leitartikel“. Dabei wird zumeist die Ambivalenz übersehen, die dem Begriff der Gewalt anhaftet: „power, strength, might, efficacyempire, rule, dominion, mastery, sway, jurisdiction, government, protection, keeping, a bridle-bit, potestas, facultas, imperium, dictio, arbitrium, jus, cannus […]“ – so steht es unter dem Lemma „Gewalt“ im „Deutschen Wörterbuch“. Die Missachtung dieser semantischen Nuancen verengt den Blick auf die Gewalt und lässt sie vornehmlich als ein destruktives, schadenzufügendes Moment im Sinne der violentia erscheinen, dessen potestas-Sinn in der Gewalt-Diskussion mehr und mehr verdrängt wird.

Gewalt als zweischneidiges Schwert

Die Texte Heinrich von Kleists und Franz Kafkas dienen – neben Verweisen auf die griechische Tragödie – oftmals als „Paradigma für den mörderischen Stil“, wie es Karl Heinz Bohrer in seinem Aufsatz „Stil ist frappierend“ ausdrückt, und auch im Werk Thomas Bernhards tritt diese ‚primäre‘ oder ‚primitive‘ Gewalt auf: seine Protagonisten ertrinken, erfrieren oder erhängen sich, sie werden erwürgt, enthauptet, in die Tiefe gestürzt, erschossen, erschlagen, eingemauert, erdrosselt, vergiftet, erdrückt, erstickt, zerquetscht, zerfetzt oder ausgelöscht und vernichtet. Für die Literatur des 20. Jahrhunderts identifiziert Jürgen Nieraad in „Gewalt und Gewaltverherrlichung“ „zwei charakteristische Positionen […]: die der kritisch-zensierenden Gewaltdarstellung und die der Gewaltapologie“.

Thomas Bernhard muss in dieser Einteilung beiden Positionen zugerechnet werden. Einerseits zeigt er – teilweise äußerst explizit –, wie sehr das Leben eines jeden Menschen von Gewalt (im Sinne einer zerstörerischen, negativen Energie) bedroht und durchdrungen ist, ja wie sehr Menschen auch diesen Gewaltaspekt verschleiern wollen und sich als Andere, als viel gewaltlosere Individuen präsentieren; andererseits führt er vor, wie wichtig und schier unverzichtbar Gewalt (im Sinne einer kreativen, positiven Energie) für die künstlerische Existenz und das Überleben des nach ästhetischer Selbstverwirklichung Strebenden sowie dessen Durchsetzung basaler Bedürfnisse ist.

Die Aufspaltung des Gewaltbegriffes, die hier skizziert ist, orientiert sich an Erich Fromm, der in seinem epochalen Werk „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ zwei wesentliche Differenzierungen vornimmt: Zum einen unterscheidet er rein natürliche ‚Instinkte‘ von soziobiologisch-historisch geprägten ‚Leidenschaften‘; zum anderen – und darauf aufbauend – betont er die negative und die positive Seite des Aggressionsbegriffes: „Wenn wir uns darauf einigen“ schreibt Fromm, „als ‚Aggression‘ alle Akte zu bezeichnen, die einer anderen Person, einem Tier oder einem unbelebten Objekt Schaden zufügen oder dies zu tun beabsichtigen, dann sind die vielen verschiedenen Arten von Impulsen, die man unter der Kategorie ‚Aggression‘ zusammenfaßt, grundsätzlich daraufhin zu unterscheiden, ob es sich bei ihnen um die biologisch adaptive, dem Leben dienende, gutartige Aggression oder um die biologisch nichtadaptive, bösartige Aggression handelt.“

Neben dieser sicherlich überraschenden Auffassung aggressiven Handelns, wird zumeist ein zweiter Dualismus übersehen, denn spricht man von Gewalt, spricht man immer auch vom ‚Anderen‘: Täter und Opfer, agens und patiens. Man könnte dieses Verhältnis mit einem Blatt Papier vergleichen, wie es Ferdinand de Saussure im „Cours“ hinsichtlich seines Konzeptes des sprachlichen Zeichens getan hat: „man kann die Vorderseite nicht zerschneiden, ohne zugleich die Rückseite zu zerschneiden; ebenso könnte man in der Sprache weder den Laut vom Gedanken noch den Gedanken vom Laut trennen“. Bernhard bedient sich in seinem durchaus als mythologisch zu bezeichnenden Schreibprojekt dieses doppelten Dualismus und lenkt die Aufmerksamkeit auf den Anderen, denn seine Charaktere sind Außenseiter, Anormale, Einzelgänger, die sich mit positiver Gewalt zu distanzieren versuchen.

Der Geistesmensch als aggressiver Anderer

Bernhards Charaktere führen den zum Scheitern verurteilten Kampf, ihr Verhältnis zur Sprache, zur Gesellschaft und zur Welt an sich stets aufs Neue zu konstituieren und permanent zu reflektieren, in der Hoffnung, der Gewalt des Anderen zu entfliehen. Die Notizen und Studien, die als Fragmente ebenso zerstückelt sind wie die ‚Geistesmenschen‘ selbst, die sie erschaffen (wollen), fungieren als Mittel gegen das Auf- und Untergehen in der gleichmachenden, identitätsstiftenden Gewalt.

Die Bernhard’schen Protagonisten sind Andere par excellence. Sie sind kranke Geher, Denker, Wortakrobaten, die sich der Gewalt des ‚Metaphern-Heeres‘ vollkommen bewusst sind. Bernhard selbst sagt in seiner Büchner-Preis-Rede: „die Wörter infizieren und ignorieren, verwischen und verschlimmern, beschämen und verfälschen und verkrüppeln und verdüstern und verfinstern nur“. Die Sprache übt mittels Verallgemeinerung Gewalt über die Dinge aus. Vielleicht ist es dieser „Abkürzungs-Prozess[]“ – um ein Wort Nietzsches aus „Jenseits von Gut und Böse“ zu verwenden –, gegen den Bernhards Figuren in ihren schier endlosen Monologen ankämpfen. Fest steht, dass sie selbst als Subjekte der Sprache unterworfen und ausgeliefert sind, ja sie werden – wie Johan Galtung es ausdrückt – von „struktureller Gewalt“ in ihrer Freiheit und Entwicklung eingeschränkt. Das radikale Verbalisieren ist dabei ebenso wie die scheinbaren Wiederholungen und das ans Lächerliche grenzende Übertreiben als eine kreativ-positive Gewalt im Sinne einer distanzschaffenden Überlebensstrategie gegen die destruktiv-negative Gewalt der gleichmachenden Sprache aufzufassen. Eine derartige Gewalt arbeitet im Verborgenen; sie ist ein subtiles Aggressionsmoment, von denen im Bernhard-Kosmos diverse zu identifizieren sind, darunter etwa das erdrückende Erbe, die bedrohliche Natur, der identitätsprägende Name, der abgeschottete Kerker, das schwer zu realisierende Schreiben, die brutale Erziehung, der gefährliche Doppelgänger oder unbarmherzige politische und religiöse Ideologien. Auf einige dieser ‚Gewalt-Zentren‘ sei im folgenden näher eingegangen.

Schreiben als aggressives Einschreiben in den Anderen

Gewalt erleiden bedeutet, in seiner (physischen oder psychischen) Integrität verletzt zu werden. So sehr die allgemeine Schreibunfähigkeit der Bernhard’schen Protagonisten immer betont wird, so sehr kann das Gegenteil behauptet werden: alle Bernhard-Figuren schreiben, selbst Konrad in „Das Kalkwerk“ schreibt. Seine Frau fungiert als Projektionsfläche, in welche sich Konrad mitsamt seiner Studie gewaltsam einschreibt und sie transformiert: „Daß er, indem er sie, seine Frau, umbrachte, im selben Augenblick auch die Studie umbrachte, stehe, so Wieser, auf einem anderen Blatt“. „Die Konrad“ ist Schriftträger und Opfer zugleich. Sie ist die passive Größe, die Schriftempfängerin, die selbst nicht imstande ist, zu schreiben: „[…] ihr ganzer Körper lehne sich ja gegen ein Schreiben ihrerseits auf“.

Die Gewalt ist als andere, als akustische Gewalt auch ein anderes Schreiben; der weibliche Körper ist Supplement und Experimentierfeld. Dies zeigt sich auch im „Untergeher“, wo sich Glenn in Wertheimer einschreibt, ihn ‚beeindruckt‘: „[…] der Klavierkünstler also darf sich durch ein Genie nicht so weit beeindrucken lassen, daß er gelähmt ist […].“ Und selbst von den Notizen und fragmentarischen Studien geht die Gefahr aus, von den Gedanken eines Anderen okkupiert zu werden. So äußert der Ich-Erzähler in „Korrektur“ die Vermutung, dass „es […] wohl seine [Roithamers] Absicht gewesen [war], mich durch die Beschäftigung mit seinem Nachlaß zu vernichten […] oder wenigstens zerstört oder wenigstens für immer dadurch irritiert zu sein, irreparabel.“

Schließlich thematisiert der Fürst Saurau in „Verstörung“ das aggressive Einschreiben per Gedanken, als er über Zehetmayer, ein als potentieller neuer Verwalter seines Anwesens völlig ungeeigneter ehemaliger Lehrer, nachdenkt: „[‚]An einem solchen Manne, an Zehetmayer, darfst du nicht das Verbrechen deiner eignen Natur begehen, d. h. ein Verbrechen begehen, indem du ihn in deine Gedanken hineinstößt, in dein monumentales Zahlen- und Ziffern-, Chiffern- und unendliches Naturlabyrinth. Die größten Verbrechen sind die, sagte der Fürst, ‚von den Überlegenen an den Unterlegenen in Wörtern begangenen, in Gedanken und in Wörtern begangenen Verbrechen usf., denke ich.[‘]“

Saurau präzisiert und ergänzt seine Ausführungen, indem er Zehetmayer zitiert: „Er [Zehetmayer] sagte, er habe mein Inserat beim Frühstück gelesen, da seien ihm auf einmal unzählige Bilder, die alle mit meinem Inserat zusammenhingen, in meinem Inserat ihren Ursprung hatten, in sein Gehirn hineinprojiziert worden.“ Die Projektion, die von einem Schriftstück ausgeht, das selbst wiederum seinen Ursprung in Saurau hat, ist nichts anderes als eine medial vermittelte Inkorporation, eine aggressive Infiltration des Anderen. Er selbst, Zehetmayer, „habe dann nur noch an das Inserat gedacht“, er kann gar nicht mehr anders: ein anderer lenkt sein Denken. Eine ähnliche Projektion erleidet Saurau selbst, verursacht durch mysteriöse Geräusche, die seine Lebensqualität mindern und ihn seinen eigenen Tod fokussieren lassen: „Tag und Nacht sei er [Saurau] in den letzten Wochen von diesen Geräuschen […] durchdrungen, verstört, andauernd durch diese Geräusche auf die grauenhafteste Weise in seinen eigenen Tod ‚hineinprojiziert‘.“

Derartige mentale ‚Besetzungen‘ sind nicht Privileg der Geistesmenschen; auch vermeintliche Autoritäten bedienen sich dieses Mittels, um ihnen Untergebene, nicht Gleichgestellte zu manipulieren. So beobachtet Atzbacher in „Alte Meister“ eine russische Gruppe, die mit einer ukrainischen Führerin den Bordone-Saal des Kunsthistorischen Museums in Wien betritt: „Ich [Atzbacher] sah nur die Rücken der russischen Gruppe und hörte, was die ukrainische Dolmetscherin zum besten gab, sie redete, wie alle anderen Führer im Kunsthistorischen Museum Unsinn, es war nichts als das übliche üble Kunstgeschwätz, das sie in die Köpfe ihrer russischen Opfer hineinstopfte.“

Der Name als aggressives Benennen

Namen hängen für den Maler Strauch in „Frost“ mit Aufklärung und Wissen zusammen, was gleichzeitig mit einer Geringschätzung des benannten Gegenstandes einhergeht. Hat man einem Gegenstand einen Namen verliehen, meint man, diesen Gegenstand zu kennen, ihn durchschaut zu haben, was jedoch de facto eine Verkennung ist. Dem Namen wird zu große Macht, zu große Verlässlichkeit hinsichtlich seines Trägers zugesprochen. Die aggressive Identifikation von Name und Objekt gilt es, zu vermeiden. Geschieht dies dennoch – noch dazu mit vermeintlich falscher Etikettierung, wie es beispielsweise im Rustenschacher’schen Laden von Karrer im Prosatext „Gehen“ beobachtet wird, wo Rustenschacher den Hosen das Namenstäfelchen ‚englische Stoffe‘ anheftet –, gerät die Welt aus den Fugen.

„Was durch den Namen identifizierbar geworden ist“, schreibt Hans Blumenberg in „Arbeit am Mythos“, „wird aus seiner Unvertrautheit durch die Metapher herausgehoben, durch das Erzählen von Geschichten erschlossen in dem, was es mit ihm auf sich hat.“ Namen besiegeln das Ende des ‚Absolutismus der Wirklichkeit‘, sie sind die Garanten einer mythischen, weniger angsteinflößenden Welt, mit ihrer Hilfe kann das Andere als der Andere angesprochen werden. Vor diesem Hintergrund erscheint Muraus scheinbar beiläufig erzählte Anekdote in „Auslöschung“ von der Hochzeit seiner Schwester in völlig neuem Licht: „Als er [der betrunkene Pfarrer] aber auf dem Höhepunkt der Handlung gewesen war, […], hatte er den Namen der Braut vergessen gehabt […]. Da er auch den Namen des Bräutigams nicht behalten hatte, mußte er auch um diesen bitten und mein Vater warf ihm, jetzt aber bereits wütend geworden, auch diesen Namen zu“. Wolfsegg ist Hort der Angst und der Gewalt. Die Namenlosigkeit zeigt sein Verharren im vormythischen Denken an – im Anderen! Muraus Absicht, die latent aggressiv geprägte Situation durch den Zuruf der Berufsbezeichnung seines Schwagers, „Weinflaschenstöpselfabrikant[,] über die Köpfe in die Kapelle hineinzurufen“, zu entspannen, verfolgt das Ziel, die Lächerlichkeit der Realität zu verdeutlichen und gleichzeitig das unbestimmt Andere als definiten Anderen zu markieren und zu benennen.

Nach Blumenberg ist die Neuzeit „die Epoche geworden, die abschließend für alles einen Namen gefunden hatte“, auch für Krankheiten, die – wie es Michel Foucault in „Die Geburt der Klinik“ ausdrückt – Teil einer „nominalistischen Reduktion der Existenz“ sind, und durch die der Mensch gebrandmarkt und etikettiert wird – oftmals ohne Verständnis, wie es Thomas Bernhard im autobiografisch gefärbten Text „Der Atem“ beschreibt: „[…] gerade in diesem Augenblick hatten die Ärzte eine Reihe von mir unverständlichen lateinischen Wörtern gesprochen, nur für sie bestimmtes Medizinisches“. In „Wittgensteins Neffe“ wird diesen medizinischen Fachtermini sogar jeglicher Wahrheitswert genommen: „Die sogenannten psychiatrischen Ärzte bezeichneten die Krankheit meines Freundes [Paul Wittgenstein] einmal als diese, einmal als jene, ohne den Mut gehabt zu haben, zuzugeben, daß es für diese wie für alle anderen Krankheiten auch, keine richtige Bezeichnung gibt, sondern immer nur falsche, immer nur irreführende, weil sie es sich letztendendes, wie alle anderen Ärzte auch, wenigstens durch immer wieder falsche Krankheitsbezeichnungen leichter und schließlich auf mörderische Weise bequem gemacht haben.“

Ohnehin wird die Krankheit in Bernhards Werk als dichotomisches, doch stets aggressives Phänomen beschrieben: Einerseits ist sie der Körper (und Geist) okkupierende Täter, der unsichtbare Andere, der sich in seinem Opfer festsetzt, in es hineingeht, es besetzt und es peu à peu transformiert. Andererseits tritt die Krankheit als übermächtiger, arroganter und mitleidloser Arzt-Täter sichtbar in Erscheinung. Hier übt sie Schrift-Gewalt aus, die in den geschwächten Patienten Begriffe einschreibt, andere, fremde Begriffe, die die eigenen überschreiben und auszulöschen versuchen. Beide Äußerungsformen der Krankheit arbeiten mit dem Ziel, den Einen in einen Anderen zu verwandeln; ihre Waffe ist die identitätsstiftende, gleichmachende Gewalt. Durch die Krankheit erhält das Subjekt einen neuen, lateinischen Namen, gleich eines Initiationsrituals; es wird zum Lungenkranken, zum Gallenstein, zum Hirntumor. Der eigentliche, ursprüngliche Name des Patienten ist irrelevant (für die Diagnose, für die Heilung); er wird ihm genommen, wird von ihm abgekoppelt. Der Patient wird mit einem neuen Namen verschmolzen: er ist die Krankheit. Durch den Taufakt, der Patient und Krankheit vereint, wird daher nicht nur ein neuer Name oktroyiert; der Mensch wird in seiner Ganzheit auf eben diesen biologischen Aspekt reduziert, der ein negativer, ein zerstörerischer ist. Die daraus entstehende Identifizierung von Individuum, Name und Krankheit ist aggressiv.

Gemälde und Fotografien als aggressive Medien

Bernhards Werk, so liest man es oft in der Forschungsliteratur, sei maßgeblich von einem monomanischen Wiederholungszwang geprägt, ja es heißt gar, der österreichische Schriftsteller habe nur ein einziges Thema verhandelt – was unter dem von Alfred Pfabigan eingeführten Begriff der „Ein-Buch-These“ zusammengefasst wird. Doch anstatt sich zu wiederholen, variiert Bernhard sehr subtil und still und nutzt diesen aggressiven semiotischen Prozess als kreative Operation zum Durchbrechen der gleichmachenden, nivellierenden Gewalt. René Girard hat gezeigt, dass der Verlust von Differenzen in archaischen Kulturen – die Mimesis des Anderen – das einträchtige Zusammenleben stört: „Wo Unterschiede fehlen“, schreibt er in „Das Heilige und die Gewalt“, „droht Gewalt.“ Daher werden beispielsweise Zwillinge getrennt und Opferhandlungen durchgeführt, um eindeutige Identifizierungen zu ermöglichen beziehungsweise Harmonie und Ordnung zu restituieren.

Anhand einer vermeintlich nebensächlichen Anekdote Regers kann diese archaische Praxis in „Alte Meister“ beobachtet werden. Reger berichtet Atzbacher von einem Engländer aus Wales, den er auf der Bordone-Saal-Sitzbank im Kunsthistorischen Museum antraf und der – Reger ähnlich – Tintorettos „Weißbärtigen Mann“ betrachtete. Der Engländer, selbst durch ein Erbe einer „Glasgow-Tante“ im Besitz eines (des?) „Weißbärtigen Mannes“, war nach Wien gekommen, da ihm sein Neffe „ganz aufgeregt“ von einem zweiten, identischen Gemälde berichtet hatte. Für ihn stellte sich die Frage, ob eines der beiden Gemälde eine Fälschung sei oder ob es sich gar um zwei Originale handle, denn „[n]ur einem so großen Künstler wie Tintoretto mag es […] tatsächlich gelungen sein, ein zweites Gemälde nicht als ein vollkommen gleiches, sondern als vollkommen dasselbe zu malen.“

Die Mechanik von Identität, negativer Gewalt und Geistesmensch wird im Umgang mit diesem Problem deutlich: Reger betont schon zu Beginn seiner Beobachtungen, dass der Engländer in dieser eigentlich so verwirrenden Situation ruhig und beherrscht aufgetreten sei. Einzig als er den „Weißbärtigen Mann“ aus der Nähe betrachtet habe, sei Reger sein „kreidebleiches Gesicht“ aufgefallen, das als stiller Index für das innere Befinden angesehen werden kann. Allerdings verbalisiert der Engländer dieses vermeintliche Skandalon nicht, er durchdenkt und problematisiert es nicht. Ganz im Gegenteil: sein Reger irritierendes Verhalten kulminiert im simplen „Good bye“, mit dem er sich verabschiedet und das Museum verlässt. Kein Zeichen eines „Redezwang[es]“, der die Geistesmenschen auszeichnet, darüber hinaus kein Interesse an Musik und Kultur! Der Engländer kann somit als Anti-Geistesmensch charakterisiert werden. Der Geistesmensch Reger hingegen, der sich als Verstandes- und Gefühlsmensch sieht, hätte in einer solchen Situation „vollkommen die Beherrschung verloren“. Die ‚Zwillingsgemälde‘ hätten ihn in einen infiniten Denkexzess getrieben, da die Grenzen von Original und Fälschung (oder Kopie) verschwunden sind. Nur die Vernichtung eines der beiden Bilder könnte einen Ausweg aus diesem disharmonischen, aggressiven Zustand darstellen.

Neben diesen ikonischen Dubletten treten bei Bernhard Zwillinge als sich ähnelnde Geschwister oder als buchstäblich geistesverwandte Freunde auf: In „Frost“ verschmilzt der Famulus mit dem Maler Strauch sowohl auf sprachlicher als auch auf gedanklicher Ebene; in „Korrektur“ nähert sich der Ich-Erzähler Roithamer durch dessen Denken und Notizen an. Schließlich ist auch Wertheimer in „Der Untergeher“ „nicht imstande, sich selbst als ein Einmaliges zu sehen; er will „immer nur Glenn Gould sein“. Dabei ist Wertheimers Suizid nicht etwa Folge des nicht zu befriedigenden Mangels in Form des „glenngenial[en]“ Klavierspiels, das er selbst nicht erreichen kann. Sein Untergang beruht auch nicht, wie Manfred Mittermayer in seiner Bernhard-Biografie meint, auf der „künstlerischen Überlegenheit von Glenn Gould“. Vielmehr resultiert Wertheimers ‚Selbstauslöschung‘ aus der völligen Differenzlosigkeit von Mensch und Instrument, was ein gravierendes Aggressionspotential beinhaltet: „Glenn Steinway, Steinway Glenn“.

Eine unheimliche Wirkung haben auch Fotografien, die per se als ‚Doppelgängermedien‘ gesehen werden können. In „Auslöschung“ sind sie ein zentrales thematisches Requisit. Beim Akt des Fotografierens hat ein Anderer – namentlich der hinter einer Linse verschanzte Fotograf – Macht über ein Subjekt, das er für immer ‚gewaltsam‘ in Pose setzt, es konserviert, einfriert und definiert. Muraus Fotografien zeigen seine Familie grotesk und lächerlich zusammengeschrumpft; endlich hat er sie im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand, endlich können ihm Eltern und Bruder nicht mehr schaden. Das Betrachten der Fotografien seiner Eltern, seines Bruders und seiner Schwestern – die er allesamt selbst aufgenommen hat – kann für Murau nur außerhalb des Barthes’schen „studiums“ ablaufen.

Übertreibungen, Verzerrungen, Wiederholungen – sprich: subjektive Abwehrmechanismen vor der vereinnahmenden, bedrohenden Familie und dem Stillstand der Vergangenheit schützen Murau vor der Gewalt: „Die Fotografie zeigt nur den grotesken und den komischen Augenblick, dachte ich, sie zeigt nicht den Menschen, wie er alles in allem zeitlebens gewesen ist, die Fotografie ist eine heimtückische perverse Fälschung, jede Fotografie, gleich von wem sie fotografiert ist, gleich, wen sie darstellt“.

Dabei liegt das aggressive Moment nicht etwa – um mit Charles Sanders Peirce zu sprechen – in der Identität von ‚Repräsentamen‘ (den Fotografien) und ‚dynamischem Objekt‘ (den fotografierten Personen), die durch den indexikalischen Charakter gegeben ist; die Aggression des Doppelgängers arbeitet hier subtiler und kommt als zeitliche Verschmelzung zum Ausdruck, denn in Fotografien, so Roland Barthes in „Die helle Kammer“, „ist die Vergangenheit so gewiß wie die Gegenwart“. So will Murau in seinem Auslöschungsbericht nicht nur Wolfsegg und seine ganze Familie auslöschen; „ihre Zeit wird darin ausgelöscht“, und damit meint er vor allem die letzten Jahrzehnte.

Vor diesem Hintergrund erklären sich auch Muraus Wiederholungen, ja die Wiederholungen aller Bernhard-Charaktere: Das variierende Repetieren ist als Strategie zum Loskommen von der Vergangenheit angelegt. Obwohl sich der Erbe Wolfseggs fragt, warum er „gerade dieses Foto [s]einer Eltern in [s]einem Schreibtisch“ habe, liegt die Antwort nunmehr auf der Hand: Die Medien der temporalen Kontamination sollen durch Schrift, durch das Schreiben eines unverfälschten, unverzerrten Berichtes vernichtet werden, um Differenz und Distanz herzustellen. Die kreativ-positive Gewalt des Schreibens bekämpft die destruktiv-negative Gewalt des Erbes und versucht, sie gänzlich auszulöschen.