Sentimentalität auf hohem Niveau

Über Gabriele Weingartners Roman „Villa Klestiel“

Von Alexander SprungRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexander Sprung

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Während die Literaturwissenschaft leidenschaftlich darüber streitet, welche Kriterien ein Buch erfüllen muss, um als „Roman“ zu gelten und dabei literaturgeschichtliche, formale oder normative Kriterien heranzieht, ist die Sache im Verlagswesen relativ einfach: Hier wird aus jeder Erzählung größeren Umfangs ein „Roman“ – aus verkaufstechnischen Gründen. Von Zeit zu Zeit aber trifft man auch noch auf genuine Exemplare seiner Art.

Ein solcher Fall ist Gabriele Weingartners neuer Roman „Villa Klestiel“. Er versammelt so ziemlich alles, was als klassische Definition des Romans gilt: ein großes Personenarsenal, eine auktoriale Erzählhaltung und das, was Lukacs die „transzendentale Obdachlosigkeit“ genannt hat: Der Versuch, die Stimmung einer „Epoche“ oder „Generation“ zu registrieren, ohne ihre Vielstimmigkeit und Widersprüchlichkeit aufzuheben.

Wie in Thomas Manns „Zauberberg“ ist die „Villa Klestiel“ eine Klause inmitten einer sich ständig wandelnden bedrohlichen Welt, die bloß durch einige Fahrten ihrer Bewohner in die Großstadt Berlin oder Brandenburg unterbrochen wird. Auch ein Lungensanatorium gibt es in der Nähe, nur eine Straßenbahnstation entfernt.

Zwanzig Senioren wohnen in diesem privaten Altersheim, in dem sie so selbstbestimmt, wie es ihrem Alter und ihren Leiden entspricht, wohnen können.

Verwaltet werden die Bewohner der Einrichtung durch die noch nicht ganz so alte Friederike, die sich um die teils schrulligen, teils zu bemitleidenden Anwandlungen und Wünsche ihrer Vertrauten kümmert. Sie ist es auch, die den Kern des Romans bildet, der Eingangsbereich und ihr Arbeitszimmer sind die Gravitationszentren, von dem aus die Geschichten der Bewohner ausstreuen. Und es sind viele, die Weingartner da versammelt hat.

Da gibt es den Herrn Friedrich, genannt Gattopardo, weil er Burt Lancaster in „Der Leopard“ so ähnlich sieht und der in seiner Wohnung unter der Last seiner Souvenirs, die er im Verlauf seines Lebens gesammelt hat, unterzugehen droht. Dann sind da Marianne und Viktor Lichtblau – sie eine in den 1960er-Jahren in der DDR politisierte Sozialistin, er ein unpolitischer, schweigsamer Lebensgefährte, der sich um ihre Krebserkrankung kümmert. Oder Xaver Brandis, die interessanteste Figur, dem einer der dunkelsten und beinahe mystischen Abschnitte des Romans gewidmet ist, in dem er in seiner Freizeit zuerst Schnee- dann Kornlandschaften durchwandert und die in diesen Wanderungen entstandenen Fotografien am Bildschirm wiederholt ansieht, um ihn, dem einzigen Nicht-Bildungsbürger dieser Villa, eine Art von „Tiefe“ widerfahren zu lassen.

Auch einen Beinahe-Erfrierungstod in einer dieser Schneelandschaften gibt es hier, wohl auch eine Anspielung auf das Schnee-Kapitel im „Zauberberg“. Und nicht zuletzt ist da Leonore Kreuzer, eine alte Jungfer, die eine platonische Beziehung mit Friedrich beginnt und den um die Villa herumstreunenden Jugendlichen, von den Bewohnern „Tim und Struppi“ genannt, ihre Wohnung überlässt.

Gestört wird diese fragile Idylle – denn gestritten und gemobbt wird auch hier – durch einen Besuch eines der Nachfahren des ursprünglichen Besitzers der Villa, der Amerikanerin Miriam, die eine Rembrandt-Zeichnung im Haus vermutet und sich mit Hilfe von Friederike auf die Suche nach diesem Schatz begibt. Überall ist die Vergangenheit spürbar, übermächtig, selbst die Villa besteht aus „Einbauschränken“, die wohl zum Verstauen und Verstecken der Habseligkeiten dienten und später von den Amerikanern benutzt wurden, die hier eine Außenstelle einrichteten. Die Bewohner trauern ihren verpatzten Möglichkeiten nach, ersticken unter ihren Erinnerungsstücken und wundern sich über die lange Zeit ihrer Ehe. Zu diesem Eingesponnensein kommt noch dazu, dass ihre Fahrten nach draußen oft in Eisenbahnzügen oder Autos stattfinden, die sie aufgrund Desinteresses oder Krankheiten nicht verlassen.

Die „Heizdecken“, unter denen die Senioren ihren Lebensabend verbringen, werden bis zum abrupten Schluss nicht gelüftet. Nach der Lektüre bleibt die Erinnerung an Moder, Wärme und nostalgische Wehmut. Manchmal wird hier doch ein bisschen zu schön gestorben, manchmal ein wenig zu sentimental erinnert. Auch die kriminalistischen Enthüllungen um eine der Hauptfiguren bleiben seltsam folgenlos. Was bleibt, ist das Gefühl, dass sich der Roman unentschieden gegenüber seiner eigenen Sentimentalität verhält und sich in einigen Fällen selbst zu sehr in sie verliebt. Der Punkt, von dem aus sich die Idylle als Illusion entpuppen könnte, bleibt, obwohl angedeutet, aus.

„All die leeren Rituale, die wir zelebrierten…“ beklagt die schwerkranke Marianne nach dem Verlust ihres Ehemannes. Man hätte sich den Roman ein wenig bissiger gewünscht – so jedoch schmecken einem Mariannes bittere Worte beinahe wie süßes Konfekt, die leichte Übelkeit nach dem Genuss mit eingeschlossen. Das ist schade, da Gabriele Weingartner trotzdem ein stilsicherer und wunderbar erzählter Roman gelungen ist.

Titelbild

Gabriele Weingartner: Villa Klestiel. Roman.
Limbus Verlag, Innsbruck 2011.
240 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783902534507

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