„Keiner ist so, wie man denkt.“

Gila Lustiger erzählt in ihrem Roman „Woran denkst du jetzt“ von familiärer Nähe zwischen zwei ganz verschiedenartigen Schwestern

Von Arnd BeiseRSS-Newsfeed neuer Artikel von Arnd Beise

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Familie ist das Schicksal. Ihr entkommt man nicht, auch wenn man den „Familienmurks“ satt hat. Mancher kehrt sogar zum Sterben dahin zurück, wo er zur Welt gekommen ist: So Paul Bergmann, letzter männlicher Spross der distinguierten Bergmanns, der sich mit seinem Bauchspeicheldrüsenkrebs für die letzten drei Monate bei seiner Schwester einquartiert, weil er glaubt, sich nur bei ihr schwach und resigniert zeigen zu können. Das nämlich erlaubt der familiäre Raum, jedenfalls dem, der zum „Kern der Familie“ gehört. Und dazu gehören nur Paul Bergmann und seine Schwester Christa sowie deren Töchter Tanja und Lisa. Pauls Frau Anne gehört so wenig dazu wie Tanjas Mann Denis, und auch Christas ehemaligem Mann gelang es nie, in die Familie Bergmann „inkorporiert“ zu werden.

Dabei hatten sich zumindest alle Frauen gegen die Familie zur Wehr gesetzt: Die Mutter brach aus ihrer Ehe aus, die ältere Tochter floh erst nach Stanford und gründete später mit einem Langweiler aus Kronberg eine neue Familie, die jüngere Tochter verweigerte sich den Wünschen des Onkels, der sie nach der Scheidung seiner Schwester mit aufzog, und rebellierte gegen die Erziehungsfesseln. Sogar Onkel Paul selbst, ein „Kulturbürger“, der möglicherweise der „Fluch der Bergmannfrauen“ war, riss „Witze über die Familie“, die sich in Auflösung zu befinden scheint. Doch niemand vermag etwas gegen sein Schicksal. Am Ende kehren sie alle in dem „Familienkreis“ zurück.

Am Abend des Tags, an dem Onkel Paul starb, sitzen die 38-jährige Tanja und ihre zwei Jahre jüngere Schwester Lisa in der Küche oder im Garten des Hauses Bergmann und reden, während die Mutter oben schläft. „Woran denkst Du jetzt“, fragen sie sich gegenseitig. Als Leser wissen wir dies besser als die Schwestern, denn der Roman erzählt auch alle nicht ausgesprochenen Gedanken der beiden. Sie bilden ein Geschwister-Paar, dessen Typisierung Lustiger-Leser so ähnlich schon aus den Romanen „So sind wir“ (2005) und „Aus einer schönen Welt“ (1997) kennen: Die Ältere ist sachlich, pragmatisch, distanziert, ordentlich, verheiratet und eine erfolgreiche Bankmanagerin mit Kind; die Jüngere impulsiv, gefühlsbetont, engagiert, schlampig, ledig und eine schlecht bezahlte kinderlose Psychodramatherapeutin.

Wie in dem abwechselnd aus Lisas und Tanjas Perspektive erzählten Gedanken-Gesprächs-Roman aber deutlich wird, sind sich die beiden ungleichen Schwestern viel näher, als sie selbst wahrhaben wollen. „Sie, das Gleiche sagen? Wohl kaum!“ Doch, doch, mag man als Leser antworten: Tanja ist – auch wenn sie was gegen „Gefühlsgrabscherei“ hat und sich für ungeeignet zu leidenschaftlicher Hingabe hält – doch auch eine „Romantikerin“, als die eigentlich ihre Schwester gilt.

Und Lisa, die sich oft über die spießige Schwester lustig machte, versteht sich gut auf Anpassung und Langeweile; sie, die Affärenreiche, lebt zur Zeit sogar eine „lauwarme Beziehung zu einem lauwarmen Mann“, was so ziemlich das Schlimmste ist, was beide Schwestern sich vorstellen können: das Leben als „lauwarme, schlappe Sache“. Beide sind eifersüchtig aufeinander, hören nur das, was sie hören wollen; sie sind voller Verständnis, aber auch bissig und gemein: Sie kennen einander so gut, dass sie sich auf die Nerven gehen, aber sie sind doch auch völlig loyal, und nicht nur, weil „Loyalität“ auch „so ein Wort“ war, „das in ihrem Familienwappen stand“.

Lustigers Roman interessiert sich nicht so sehr für Verwerfungen in der Familie (etwa, dass der aus einer Plattenbausiedlung stammende Vater nie verstanden hat, „wie reizlos einer in Wohlstand aufgewachsenen Frau der Wohlstand scheint“), sondern für den geheimen Kitt, der trotz aller „Animositäten und Reibereien“ den Kern der Familie verbindet, vielleicht ihr Wesen ausmacht. Das Raffinierte an diesem Roman ist, dass er zweistimmig erzählt ist und wir etwas über diesen Kitt durch die angestrengten Abgrenzungsbemühungen der beiden Schwestern erfahren. Nicht obwohl, sondern weil sie so anders sind, sind sie sich so ähnlich, könnte man die heimliche Logik des literarischen Verfahrens auf den Punkt bringen. Für „menschliche Widersprüche“ hat Lustiger ein besonderes Gespür, und wir verstehen ganz gut, warum Tanja ihren Mann liebt und deswegen einen Geliebten hat; dass Paul seine Frau liebt und sich ihr deswegen entziehen muss; und dass Tanja und Lisa einander so nah sind, obwohl sie nicht verschiedener sein könnten. Der Roman bevorzugt keine der beiden Schwestern. Wir lernen Lisa ebenso aus den Gedanken und Worten Tanjas kennen, wie umgekehrt Tanja aus Lisas Worten, so dass es nicht viel ausmacht, dass Lisa etwas mehr Text und sowohl das erste wie das letzte Wort in dem Roman hat. Das Eigentliche kann ohnehin nicht in Worte gefasst werden. Alles, was man „dazu sagen könnte, wäre falsch formuliert und lächerlich“.

Titelbild

Gila Lustiger: Woran denkst du jetzt. Roman.
Berlin Verlag, Berlin 2011.
286 Seiten, 18,90 EUR.
ISBN-13: 9783827010179

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