Der Herr und sein Knecht

Henning Marmulla rekonstruiert die Frühgeschichte des „Kursbuches“

Von Jörg AubergRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Auberg

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Nichts ist so überflüssig wie eine neue Zeitschrift“, kommentierte der Publizist Dieter E. Zimmer in der Wochenzeitung „Die Zeit“ im Sommer 1965 den Start der von Hans Magnus Enzensberger und dem Suhrkamp Verlag herausgegebenen Zeitschrift „Kursbuch“. Auch wenn ihr Erscheinen vom Publikum nicht sehnsuchtsvoll erwartet wurde, konnte sie in den folgenden Jahren auf dem Markt mit interessanten Themen reüssieren und blieb bis in die 1980er-Jahre ein wichtiges Medium der linken Intellektuellen, das schließlich mit ihnen verschwand.

Die Geschichte der Entstehung und der Entwicklung der Zeitschrift in den ersten Jahren rekonstruiert der Literaturwissenschaftler und Suhrkamp-Lektor Henning Marmulla in seinem Buch „Enzensbergers Kursbuch“ minutiös. Ein Vorläufer der Zeitschrift war das gescheiterte Projekt einer transeuropäischen Zeitschrift mit dem Titel „Revue Internationale“, die an strukturellen und ästhetischen Zwistigkeiten der beteiligten europäischen Autoren scheiterte. Aus dem Wrack eignete sich Enzensberger die verwertbaren Bruchstücke an und griff – wie es im Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hieß – „auf eine bewährte und weniger komplizierte Struktur“ zurück: „Er ediert auf seiner nordischen Insel allein; als Redakteur mit Sitz im mitteleuropäischen Knotenpunkt Frankfurt dient der Suhrkamp-Lektor Karl Markus Michel“. Enzensberger übernahm die internationale Ausrichtung des ursprünglichen Projekts, musste sich aber die Unterstützung durch das Suhrkamp-Netzwerk mit einigen Kompromissen erkaufen: Kritik an den Suhrkamp-Cashcows Bertolt Brecht, Hermann Hesse und Max Frisch war untersagt, und Siegfried Unseld räumte sich ein verlegerisches Mitspracherecht ein, das letztlich die Autonomie des Herausgebers Enzensberger unterminierte.

Die Geschichte des frühen „Kursbuches“ bis zum Bruch mit dem Suhrkamp Verlag 1970 schildert Marmulla in einem an Pierre Bourdieus kultursoziologischen Theorien orientierten Bezugsrahmen. Nach Auffassung des französischen Soziologen entsteht das Politische dort, „wo die herrschenden Sicht- und Teilungskriterien der sozialen Welt infrage gestellt“ würden. Den Fußstapfen Bourdieus folgend, fasst Marmulla Enzensbergers Zeitschrift als Organ dieser Infragestellung und ein „Forum einer Wahrnehmungsrevolution“ auf. Das „Kursbuch“ habe, schlussfolgert er am Ende seiner Studie, „neben unter anderen den Texten zur Revolutionierung der Gesellschaft und des Individuums, insbesondere und damit zusammenhängend Stellungnahmen zur Revolutionierung der Wahrnehmung geliefert.“ In dieser Perspektive wird das Unternehmen „Kursbuch“ zu einem heroischen wie historischen Projekt, und der Medienunternehmer Enzensberger ist – mit all seinen Wendungen im Laufe der Jahre – nicht der windige Profiteur, der „immer im Aufwind der allerneuesten Konjunktur“ segelt (wie ihn Michael Schneider beschrieb), sondern ein permanenter Wahrnehmungsrevolutionär, der seiner Zeit stets voraus ist.

Zweifelsohne gelingt es Marmulla mit dieser detaillierten, gut dokumentierten Studie, einen weit gefächerten Blick auf die interne Geschichte des „Kursbuches“ zu werfen, doch leider mangelt es ihm an einer Kritik gegenüber seinem Protagonisten. Dessen Theorie der „Bewusstseinsindustrie“, die angeblich die Kritik der Kulturindustrie (wie sie von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno entwickelt wurde) weiterführte, fügt Marmulla bruchlos in sein argumentatives Framework der „Wahrnehmungsrevolution“ ein: Die Wahrnehmung bestimmt das Bewusstsein. Als Lieferant der „Bewusstseinsindustrie“ sollte sich der Intellektuelle, argumentierte Enzensberger, nicht ohnmächtig den Forderungen des Apparates unterwerfen, sondern vielmehr auf das „gefährliche Spiel“ einlassen. Unweigerlich würde er zum Komplizen einer Industrie, deren Existenz von seiner Zuarbeit abhänge und „deren heutiger Auftrag, die Zementierung der etablierten Herrschaft, mit dem seinen unvereinbar“ sei. So soll der Intellektuelle als Guerillero auf feindlichem Territorium agieren, sich listig im Produktionsapparat einnisten, seine Gesetzmäßigkeiten studieren, um ihn der herrschenden Klasse zu „entfremden“.

Diesem Zweck sollte auch das Produktionsmittel „Kursbuch“ dienen, das der Herr auf der nordischen Insel und sein Frankfurter Knecht in Umlauf brachten. Enzensbergers „Baukasten zu einer Theorie der Medien“ veränderte zwar nicht die Medienapparate, war aber jahrelang ein um sich selbst kreisendes Modul in endlosen Debatten über die emanzipatorischen Potenziale der Massenkultur. „In Westeuropa tritt die sozialistische Bewegung hauptsächlich mit sprachlich, inhaltlich und formal exklusiven Zeitschriften an eine Öffentlichkeit von Einverstandenen“, konstatierte er. „Diese Korrespondenzen und Mitteilungsblätter setzen eine Mitglieder- und Sympathisantenstruktur und eine Mediensituation voraus, die etwa dem historischen Stand von 1900 entsprechen; ihre Fixierung an das Vorbild der Iskra ist offensichtlich.“

Das „Kursbuch“ selbst war ein autoritäres, in seiner Produktionspraxis rückwärts gerichtetes Projekt: Ein willkürlich herrschendes Herr-Knecht-Duo gab entgegen dem Credo „Kursbücher schreiben keine Richtungen vor“ den Kurs vor, und während Enzensberger über die egalitäre Struktur der Neuen Medien schwadronierte, übte er sich in Einbahnstraßenkommunikation. Letztlich diente das „Kursbuch“ nicht dazu, den Intellektuellen als Spezialisten überflüssig zu machen (wie Enzensberger behauptete), sondern seine Wichtigkeit im Betrieb mit sozialem und kulturellem Kapital zu festigen. In seiner akademischen Schreibweise skizziert Marmulla die kurze Geschichte des „Kursbuches“ in einem „politischen Kommunikationsraum“, doch löst sich dort die politische Substanz auf. Fleißig und eifrig hat der Autor die Materialien aus Archiven und Vor- und Nachlässen von Schriftstellern aufgestöbert, zusammengetragen und kompiliert, um die Erzählung schließlich zu depolitisieren und den Autor, der einst helfen wollte, die Massen zu Autoren der Geschichte zu machen, kultisch in einer historischen Ein-Mann-Show zu überhöhen.

Titelbild

Henning Marmulla: Enzensbergers Kursbuch. Eine Zeitschrift um 68.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2011.
384 Seiten, 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783882216240

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