Entzauberte Helden

Christoph Ransmayr und Martin Pollack legen in „Der Wolfsjäger“ Fährten in die polnische Vergangenheit

Von Willi HuntemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Willi Huntemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer zu Herman Melvilles großem Romanwerk „Moby Dick, oder: Der Wal“ greift, interessiert sich in der Regel nicht für Wale und Walfang, sondern für Literatur. Vordergründig geht es zwar auf über 900 Seiten nahezu ausschließlich um die Jagd auf einen Wal, doch das Thema des Romans ist ein anderes, auch wenn man hinterher um einiges klüger ist, was Walfang im 19. Jahrhundert anbelangt.

Die Geschichte „Der Wolfsjäger“, die den „drei polnischen Duetten“ von Christoph Ransmayr und Martin Pollack auch den Titel gegeben hat, handelt vordergründig in ähnlicher Weise von Wölfen und der Jagd nach ihnen, doch die „Fährtensuche in den polnischen Karpaten“ – so der Untertitel der Erzählung – hat noch ein anderes Ziel. Ausgerüstet mit Reiseführern machen sich der Erzähler und sein Begleiter an einem Oktobertag auf in den Südosten Polens nahe der ukrainischen Grenze, um alte Siedlungen ukrainischer Volksstämme, der Lemken und Bojken, aufzuspüren.

Diese ukrainischen Stämme wurden im kommunistischen Polen wegen ihrer Autonomiebestrebungen aus ihrer Heimat vertrieben. Statt der erhofften Kirchen und Dörfer stoßen die Reisenden auf eine Blockhüttenpension, deren Gäste sonst Touristen sind, die wegen der Wölfe in der Gegend kommen. Am nächsten Tag, auf dem Weg in die Bieszczady-Berge, treffen sie nach einer Autopanne auf den hilfreichen Einsiedler Wasyl, der sich als Wolfsjäger und Angehöriger des Bojkenvolkes zu erkennen gibt, für den die Jagd auf das mythisch überhöhte Raubtier zum Lebensinhalt geworden ist. Am Abend wieder in der Blockhütte angelangt, wo eine gesellige Runde sie empfängt, fällt plötzlich ein ganz neues Licht auf das Erlebte, in einer für die Protagonisten wie für den Leser überraschenden Volte.

In dieser wohlkomponierten Kurzgeschichte – denn um eine solche handelt es sich im vollen Sinn der Gattung – verstehen es die Verfasser, zwei stoffliche Stränge: regionale Wolfsmythen und ein zeitgeschichtliches Kapitel des polnischen Umgangs mit ethnischen Minderheiten, erzählerisch so zu verknüpfen, dass das Stoffliche transzendiert wird und die Lektüre auch für diejenigen ein Gewinn ist, die sich weder für Wölfe noch für polnische Bevölkerungspolitik der Nachkriegszeit übermäßig interessieren. Der alte Topos: Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, wird auf literarisch gelungene Weise aufgefrischt. Und in mehrfachen perspektivischen Wechseln wirft der Text ein Licht darauf, dass sowohl die Belebung wie die Entzauberung von Mythen ihren Ursprung im Erzählen haben.

Das ist auch der thematische Kern der zweiten Erzählung: „Der Heilige. Ermittlungen gegen das Heldentum“. Sie kommt, eingefasst in den erzählerischen Rahmen einer Recherche-Reise, dokumentarisch, reportagehaft daher und schildert den authentischen Fall des österreichischen Soldaten Otto Schimek, der 1944 von der Wehrmacht als Deserteur hingerichtet wurde, später aber, nachdem seine Schwester in Polen sein Grab ausfindig gemacht hatte, dreißig Jahre nach seinem Tod in der katholischen Kirche in Polen, mit Unterstützung der Presse, als Märtyrer und Widerständler auf ein Heldenpodest gehoben wurde. Die Recherchen des Erzählers allerdings führen zu Quellen, die diese Heldenerzählung konterkarieren und den Fall als einfache Fahnenflucht erscheinen lassen. So wird, in der perspektivischen Engführung von offizieller Kanonisierung, medialer Aufbereitung, Zeugenaussagen und Archivquellen die Genese einer Legende als interessegeleitetes Deutungsgeschehen sichtbar gemacht und der eigentliche Fall Schimek zum Exemplum.

Der dritte Text, „Der Nachkomme. Zwischen Ghetto und Gelobtem Land“, ist ein Stück Rollenprosa und fällt gegenüber den beiden anderen deutlich ab. Er illustriert in der Figur eines polnischen Juden und seiner Familiengeschichte, die antijüdische Politik der polnischen Kommunisten in den 1960er-Jahren, die zu einer massiven Auswanderungswelle von polnischen Juden führte. Der Text, dem es an innerer Spannung mangelt, kommt über die Bebilderung eines zeitgeschichtlichen Aktes, wie bedeutend er für die jüngere polnische Geschichte auch sein mag, nicht hinaus. Er, wie auch „Der Heilige“, sind Neufassungen von Texten, die laut Vorwort, bereits vor Jahrzehnten in der Literaturzeitschrift „TransAtlantik“ erschienen sind.

Dagegen ist nichts einzuwenden – wohl aber gegen die Apostrophierung der kleinen Zusammenstellung im Untertitel als „drei polnische Duette“. Sie lässt erwarten, dass damit nicht einfach auf die doppelte Autorschaft des österreichischen Schriftstellers Ransmayr und des österreichischen Polonisten Pollack, seines Zeichens Übersetzer und Verfasser einiger Reportagen über den polnisch-galizischen Kulturraum, abgehoben wird, sondern sich als Zweistimmigkeit, in welcher Form auch immer, in den Erzählungen selbst abbildet.

Doch vom „Duett als erzählerische[m] Verfahren“, wie es im Vorwort ausdrücklich heißt und wie es auch werbend im Verlagsprospekt groß hervorgehoben wird, kann keine Rede sein. Ein Synergieeffekt mag in der Entstehung eine Rolle gespielt haben, für den Leser ist nichts davon spürbar; er sieht sich in seinen Erwartungen, die sich an einen großen Namen und an einen in poleninteressierten Kreisen immerhin auch nicht unbekannten Autoren knüpfen, getäuscht. Nicht nur Mythen und Legenden, auch Werbeversprechen können entzaubert werden. So bleibt der Band im ganzen doch eher nur empfehlenswert im Hinblick auf ein Interesse an Polen und seiner Geschichte und Geografie.

Titelbild

Christoph Ransmayr / Martin Pollack: Der Wolfsjäger. Drei polnische Duette.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2011.
75 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783100629500

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