Für eine kritische Wissenschaft vom Tiere

Der Arbeitskreis Chimaira präsentiert seinen Sammelband zu den „Human-Animal Studies“

Von Jakob Christoph HellerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jakob Christoph Heller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Geraume Zeit fand die Auseinandersetzung mit der Rolle und Funktion des Tieres in Gesellschaft und Kultur – die Animal Studies, beziehungsweise Human-Animal Studies – vor allem im anglophonen Raum statt. An australischen, britischen und US-amerikanischen Universitäten nahm man in einer Kultur der akademisch etablierten Minority Studies die Herausforderungen und Anregungen von poststrukturalistischen AutorInnen wie Jacques Derrida, Judith Butler und Donna Haraway an, um die Frage nach der Konstruktion hegemonialer Macht- und Herrschaftsstrukturen auch auf nichtmenschliche Lebewesen auszudehnen. Dort trat das neue Forschungsfeld in produktive Auseinandersetzung nicht nur mit akademischen Diskursen um Post- und Transhumanismus, Gender und Queer Studies, sondern stand und steht auch in Kontakt mit politischen Bewegungen sowie weltanschaulichen Praktiken wie Vegetarismus und Veganismus.

Als transdisziplinäres Paradigma produzierte die Fokussierung auf Mensch-Tier-Verhältnisse dabei trotz seiner scheinbaren Marginalität vielfältige und bereichernde Texte: So beispielsweise in der Untersuchung der Rolle von Labortieren bei der Wissensproduktion, in der Analyse pejorativer und dehumanisierender Vergleiche im Rassismus, Antisemitismus und Sexismus, oder – genereller und fundamentaler – in der Fortführung der dekonstruktivistischen Kritik an der Natur-Kultur-Dichotomie.

In Deutschland hingegen konnte von der Annahme eines „Animal Turn“ keine Rede sein; die akademische Welt blieb reserviert. Erst seit wenigen Jahren lässt sich auch hierzulande ein wachsendes Interesse für die Human-Animal Studies (HAS) beobachten. Neben ersten Sammelbänden und Tagungen zum Thema (exemplarisch sei hier auf den von Anne von der Heiden und Joseph Vogl herausgegebenen Band „Politische Zoologie“ verwiesen) begann die Konstitution von Netzwerken und halbinstitutionellen Strukturen: 2010 kam es zur Gründung der soziologisch orientierten „Group for Society and Animals Studies“, 2011 folgte das konstitutive Treffen des Nachwuchsforschernetzwerkes „Cultural and Literary Animal Studies“ und seit 2010 ist „Chimaira“, der Arbeitskreis für Human-Animal Studies aktiv. Dieser ist es auch, der den vorliegenden Band publizierte.

Unter dem Titel „Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen“ versammelt er Aufsätze aus unterschiedlichen Disziplinen – mit dem erklärten Ziel, einen „exemplarischen Einblick in die Human-Animal Studies“ zu geben und die Etablierung des Forschungszweiges in Deutschland voranzutreiben. Zugleich situieren sich die HerausgeberInnen in einem explizit politischen, emanzipatorischen Kontext und sprechen von der „Notwendigkeit einer Intervention in die ausbeuterische Realität der hegemonialen Mensch-Tier-Verhältnisse.“

Die Positionierung innerhalb einer engagierten, „kritischen Wissenschaft“ – nicht wenige der AutorInnen sind in Antidiskriminierungs- und Tierschutzgruppen aktiv – beeinflusst auch Stoßrichtung und Auswahl der Aufsätze: Entgegen der postulierten Transdisziplinarität fehlen beispielsweise Beiträge aus den Bereichen der Neurophilosophie, Literaturwissenschaft und Tierethik vollkommen. Statt dessen beschäftigen sich die Aufsätze beispielsweise mit der Beziehung der HAS zu Gender und Queer Studies, der Geschichte der Tierrechtsbewegung oder der theoretischen Analyse hegemonialer Mensch-Tier-Verhältnisse. Trotz dieser letztlich notwendigen Einschränkung des transdisziplinären Anspruchs funktioniert der Band als gelungener Querschnitt durch die „politisch engagierten“ Debatten der HAS.

So beschäftigt sich etwa Markus Kurth in seinem lesenswerten Aufsatz zur „Sprache der Mensch-Tier-Verhältnisse“ mit der Mensch-Tier-Dichotomie, die philosophiehistorisch zumeist – beispielsweise bei Aristoteles – mit der Befähigung zur Sprache begründet wurde: Den Lauten des Tieres wird der nur dem Menschen gegebene Logos gegenübergestellt; einzig der Mensch als sprechendes Subjekt ist Teil der Polis. Aufbauend auf Jacques Rancières politischer Philosophie argumentiert Kurth für das Ungenügen dieses tradierten Differenzkriteriums: Die Teilhabe an der Sprache selbst ist nicht ausreichend, um als politisches Wesen zu wirken – „das Privileg, als ein sprechendes Wesen wahrgenommen zu werden und damit gesellschaftlichen Anteil zu haben, ist keine direkte Folge der Subjektwerdung“. Damit bringt Rancière eine Spaltung in die Polis selbst ein, die in Kurths Lesart auch die anthropologische Differenz destabilisiert. Von der Repräsentation ausgeschlossen sind nicht nur Tiere, sondern gleichermaßen die Unterprivilegierten. In den Worten Kurths: „Der gesellschaftlich relevante Logos ist also Beteiligung, nicht physisches Vermögen. Die Potenzialität zur Diskussion nützt nichts ohne Beteiligung.“

Ausgehend von dieser Problematik der Repräsentation optiert Kurth in seinem Aufsatz für die Rekonzeption von Politik und Gesellschaft im Zeichen der Akteur-Netzwerk-Theorie: Er greift dazu auf Donna Haraways Konzept des „Kollektivs“ zurück, einer transitorischen, gemeinsamen Artikulation von menschlichen, organischen und technologischen Akteuren: „Interessenverhandlungen in diesem Kollektiv basieren nicht auf der Grundlage von Repräsentationen, sondern auf Artikulationen aller im Kollektiv verorteter“ AkteurInnen. Mit Haraway gesprochen geht es in dieser neuen Form gesellschaftlicher Organisation „um neue Praktiken, andere Lebensformen“, die die Utopie einer gemeinsamen, non-hegemonialen Teilhabe an der Welt verwirklichen. Und mit dieser Anknüpfung tauscht Kurths Aufsatz Analyse gegen Pathos; zweifelsfrei ist die von Teilhabe und Inklusion bestimmte Gesellschaft erstrebenswert, jedoch verliert die „kritische Wissenschaft“ – und auch Haraway geht es nicht anders – im Predigen des Ideals ihre analytische Schärfe.

Der Fluchtpunkt einer anderen, herrschaftsfreien Lebensform bestimmt viele der im Sammelband vertretenen Aufsätze. Während Kurths „Kollektive“ dabei einen positiven Entwurf darstellen, liegt ein anderer Schwerpunkt des Bandes auf der theoretischen und praktischen Relation der HAS zum Feld der Minority Studies: Dies betrifft Sabine Hastedts Auseinandersetzung mit „Strukturellen Analogien zwischen Mensch-Tier-Dualismus und Geschlechterbinarität“ genauso wie Swetlana Hildebrandts Betrachtungen zu „Vergeschlechtlichten Tieren“. Prinzipiell ist die Debatte bestimmt von der Widersprüchlichkeit unterschiedlicher emanzipatorischer Perspektiven. So beschäftigt sich Andrea Heubachs Aufsatz „Der Fleischvergleich. Sexismuskritik in der Tierrechts-/Tierbefreiungsbewegung“ mit den Fallstricken vieler PETA-Kampagnen, die die Sensibilisierung für den Tierschutz um den Preis sexistischer Bilder betreiben. Heubachs gelungene Analyse verfällt jedoch nicht blind einer feministischen Kritik an jenen „Lieber nackt als im Pelz“-Plakataktionen. Vielmehr diskutiert sie die „feministischen Diskurse innerhalb der Tierrechtsbewegung“ umfassend und mit Blick für die Widersprüchlichkeit eines Feminismus, der dualistische, essentialistische und heteronormative Vorstellungen reproduziert. Als Alternative schlägt Heubach eine umfassende, „intersektionelle“ Analyse vor, deren Position die „Verknüpfung verschiedener Herrschaftsmechanismen“ berücksichtigt und thematisiert.

Auch die anderen Aufsätze des Bandes sprechen sich für die gewissermaßen ganzheitliche, „intersektionelle“ Perspektive der HAS aus, die die Zusammenhänge, Analogien und Widersprüche von Kapitalismus, Sexismus, Rassismus und eben „Speziesismus“ analytisch in den Blick nimmt. Sollte diese Verschmelzung gelingen, ohne selbst wiederum unterschiedliche Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu nivellieren, so kann die HAS in ihrer „kritischen“ Spielart eine wirksame und notwendige Erweiterung bestehender Minority Studies darstellen. Für den Sammelband bedeutet diese Fokussierung auf Fragen, die spezifisch das Selbstverständnis emanzipatorischer Bewegungen betreffen, jedoch eine Einschränkung der Eignung als Einführung; sofern man aber die Prämissen einer „kritischen Wissenschaft“ teilt, bietet „Chimaira“ zahlreiche Einblicke in allgemeine und spezielle Diskussionen und Debatten der HAS und Minority Studies.

Titelbild

Chimaira - Arbeitskreis für Human-Animal Studies (Hg.): Human-Animal Studies. Über die gesellschaftliche Natur von Mensch-Tier-Verhältnissen.
Transcript Verlag, Bielefeld 2011.
424 Seiten, 24,80 EUR.
ISBN-13: 9783837618242

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