Berthold Auerbach und Walter Scott

Zu Auerbachs Romandebüt „Spinoza“

Von Davina HöllRSS-Newsfeed neuer Artikel von Davina Höll

Die Beschäftigung Berthold Auerbachs mit Leben und Werk des jüdischen Philosophen Baruch de Spinoza begann schon in der Jugend des Autors und dauerte zeitlebens an. Besonders faszinierten ihn zunächst Spinoza und dessen außergewöhnliche Biografie. Die Lebensgeschichte dieses großen Denkers und Vorkämpfers für die Befreiung von religiöser Orthodoxie bot Auerbach eine Projektionsfläche für sein eigenes Leben und Wirken.

Sein früh gewecktes Interesse an Spinoza und das Bedürfnis, dessen Leben und Schaffen literarisch zu bearbeiten, verbanden sich zudem mit dem zweiten lebenslangen Vorhaben Auerbachs, einen „Juden-Roman“ zu schreiben. Er beklagte das Fehlen von Werken jüdischer Autoren, die sich in deutscher Sprache dezidiert jüdischen Themen zuwandten. Durch den tiefen Eindruck, den der Amsterdamer Denker Spinoza schon auf den jungen Auerbach gemacht hatte, ergaben sich Thematik und Inhalt des zu schreibenden Romans beinahe aus innerer Notwendigkeit. Auch die geeignete Form der Darstellung schien vorgegeben.

Auerbach bekannte in einem Brief vom 20. Januar 1876 an seinen Freund Jakob: auch auf ihn habe „Walter Scott eingewirkt, wie kein Anderer. Ich habe von ihm gelernt, zuerst das jüdische Leben und dann das Bauernleben in dichterischer Perspektive zu sehen und zu fassen.“ Mit dieser Äußerung benannte Auerbach den schon im 19. Jahrhundert weltberühmten schottischen Autor Sir Walter Scott als entscheidenden Impulsgeber für sein eigenes literarisches Schaffen und stellte sich so in die poetologische Nachkommenschaft des Begründers des historischen Romans. Diese vermeintliche Nachfolge bestand für Auerbach nicht nur inhaltlich in einem gemeinsamen Interesse an der Darstellung jüdischen sowie bäuerlichen Lebens, sondern sollte auch auf formal-ästhetischer Ebene ihren Ausdruck finden. So trug die erste Auflage des „Spinoza“-Romans auch den bezeichnenden Untertitel „Ein historischer Roman“.

Walter Scott war vor allem für seine eindrücklichen Beschreibungen der schottischen und englischen Landschaften und deren Bewohner berühmt und beliebt. Die Auseinandersetzung Scotts mit der jüdischen Bevölkerung und deren Kultur scheint nicht kennzeichnend für sein literarisches Schaffen. In den meisten seiner Werke treten Juden, wenn überhaupt, nur als Nebenfiguren in Erscheinung. Eine Ausnahme stellt einer der berühmtesten Romane Scotts – „Ivanhoe“ – dar. Ein Großteil dieses Werkes widmet sich der Darstellung jüdischen Lebens und jüdischer Kultur in England zur Zeit des Königs Richard Löwenherz. Der 1819 erschienene Roman thematisiert eindrücklich die Konflikte zwischen den eroberten Angelsachsen und den normannischen Besatzern, die seit dem Einfall durch Wilhelm den Eroberer im Jahre 1066 immer wieder im Land ausgetragen wurden. Die damit einhergehenden erbrechtlichen, konfessionellen und sozialen Spannungen und die besondere Situation der Juden in dieser bedrohlichen Zeit werden von Scott detailreich und anschaulich geschildert, wenn auch sein Umgang mit der geschichtlichen Realität durch große künstlerische Freiheit geprägt ist.

Die Illustration des jüdischen Lebens geschieht am Beispiel der Figuren des Isaak von York und seiner Tochter Rebekka. Isaak, ein jüdischer Händler und Geldverleiher, dessen merkantile Dienstleistungen weder von Sympathien noch von Moral gelenkt werden, wird von Scott durchaus stereotyp als ängstlich, unterwürfig und dabei stets geldgierig gezeichnet. Isaaks Tochter Rebekka hingegen ist überaus schön und beherrscht die Heilkunst meisterhaft. Sie verkörpert das allgemeine Humanitäts- und Vernunftprinzip, das sich über soziale, kulturelle und religiöse Schranken hinwegzusetzen vermag. So wurde in der Scott-Forschung oft angemerkt, Rebekka sei die eigentliche Hauptfigur des „Ivanhoe“. Ebenso wird allerdings nach wie vor der Vorwurf erhoben, Walter Scotts literarische Gestaltung der jüdischen Figuren im Roman sei vorurteilsbelastet und vorurteilsfördernd. Tatsächlich gab es eine Vielzahl von epigonalen Schöpfungen, die man in der Tradition der Scott’schen Judendarstellung des „Ivanhoe“ sah. Diese begründeten eine negative Rezeptionslinie, die zu einer Trivialisierung der Rebekka-Handlung führte, bis hin zu den klischeehaften Ritterromanzen, in denen stets die schöne Jüdin dem christlichen Ritter verfällt und schließlich nur zwischen Kloster und Selbstmord wählen darf. Auerbach war sich dieses populären wie irrigen Traditionsstrangs durchaus bewusst. Durch seine eindeutige Bezugnahme auf Scott unterschied er aber dessen Originaltext von der großen Menge der Nachahmungen.

Auerbach hatte es sich zur Aufgabe gemacht, am Beispiel der Lebensgeschichte Spinozas den deutsch-jüdischen historischen Roman zu schaffen, im Stil Walter Scotts und als adäquates Gegenstück zu den von Auerbach abgelehnten Erzeugnissen der produktiven Rezeption der Scott-Epigonen. Sein Erstlingswerk „Spinoza“ erschien nach nur knapp neunmonatiger Entstehungszeit 1837. Der ersten Auflage war eine Vorrede mit dem Titel „Das Ghetto“ vorangestellt, die bereits die zweite Auflage von 1854 nicht mehr enthielt. In dieser Vorrede legte Auerbach die Maxime seines poetischen Schaffens dar. Er plante eine komplette „Reihe historischer Zeit- und Sittenbilder“ aus dem jüdischen Leben, an deren Anfang der „Spinoza“-Roman stehen sollte und die das Ziel verfolgte, dem jüdischen Leben, das Auerbach zufolge nach und nach zerfiel, ein poetisches Denkmal zu setzen. Zentral war für Auerbach, dieses Denkmal durch eine Vereinigung von „Poesie und Geschichte“ zu schaffen. Es ging ihm weder um moralische Aufklärung noch um die Beförderung der Juden-Emanzipation, die Poesie allein sollte sich „höchster und einziger Selbstzweck“ sein. So versuchte Auerbach mit dem Anliegen, durch die Symbiose von Poesie und Geschichte eine untergegangene Zeit zu erinnern, die poetologischen Prinzipien des historischen Romans umzusetzen.

Viel zu oft wurde in der Nachfolge Scotts gerade die jüdische Geschichte Gegenstand jener trivialen und klischeebeladenen Ritterromanzen. Auerbach bot in seiner Vorrede eine spöttische Persiflage dieser Werke und wendete sich danach gegen das „durchweg falsche Colorit“ dieser vermeintlich jüdischen Literatur. Er führte dieses zurück auf das Unvermögen christlicher Autoren, sich in das Wesen jüdischen Denkens und Lebens hineinversetzen zu können. Er selbst hingegen, als Jude, der die jüdische Erziehung erfuhr und die jüdischen Gewohnheiten und Traditionen verinnerlicht hatte, habe „den Beruf“, diese in die Welt zu tragen. Es sei vor allem der „reiche Schatz von Sagen, Wundergeschichten und dergleichen“, den Auerbach mit Hilfe der literarischen Manifestation retten wolle. Die Betonung der Bedeutung des legendenhaften, mythischen Kulturguts fand dann auch in seinem „Spinoza“ erkennbaren Niederschlag. Auerbach ging es nicht vordergründig um die realistische Darstellung einer Episode der jüdischen Vergangenheit, sondern darum, den wunderbaren, den poetischen Bestandteil der jüdischen Geschichte vorzuführen und so zu bewahren.

Schon die Acosta-Episode am Romanbeginn erinnert an die düsteren Szenerien der schwarzen Romantik und ihrer Gothic Novels. Ein verlassener Friedhof, ein offenes Grab und ein religiöser Abtrünniger, der zu ewiger Verdammnis bestimmt ist und als Selbstmörder verscharrt wird, könnten ebenso Inventar eines Schauerromans im Stil von Horace Walpole, Ann Radcliffe oder Matthew Gregory Lewis sein. Es finden sich im Lauf des Romans immer wieder Anklänge an Unheimliches oder mythisch Verklärtes. Neben Topoi der romantischen Landschafts- und Ortsbeschreibungen sind ganze Kapitel des Romans in schauerromantischer Manier verfasst. Zu den eindrücklichsten gehören die Geschichte vom „Jüdischen Dominikaner“, die frei erfundene Manuela-Episode oder Spinozas Erlebnisse bei dem „Kabbalisten“. Auch mit seine Reminiszenzen an die Gothic Novel befindet sich Auerbach in poetologischer Nähe zu seinem Vorbild Walter Scott. War dieser zwar den künstlerischen Idealen des Klassizismus verpflichtet, bediente er sich dennoch selbst häufig populärer Versatzstücke aus der Schauerliteratur. Auerbach folgt Scott auch darin, das Unheimliche auf der Textebene lediglich als subjektive Empfindung der betreffenden literarischen Figuren und so als einen, der jeweiligen Zeit und Kultur inhärenten Aberglauben vorzuführen. Er nutzt das Spannungserzeugungspotential des Legendenhaften, um nüchterne historische Fakten unterhaltsam auszuschmücken und so für Geschichte zu begeistern. Eine tatsächliche Existenz von Übernatürlichem wird in diesem, dem aufklärerischen Geist Spinozas gewidmeten Roman natürlich nicht verhandelt.

Auerbachs „Spinoza“-Roman ist nie wirklich erfolgreich gewesen. Zwar erschien sein Erstlingswerk bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in mehr als 30 Auflagen und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt, doch betonte Anton Bettelheim, der maßgebliche Biograf Auerbachs, dass dies erst durch die „Lokomotive der Schwarzwälder Dorfgeschichten“ möglich geworden war. Der Plan, einen deutsch-jüdischen historischen Roman zu schreiben, war allerdings gescheitert. Zwar hatte Auerbach, wie gewollt, das Leben, die Sitten, Gebräuche und Legenden der Juden so darstellen können, wie es nur ein Mitglied dieser Kultur vermochte, doch scheiterte er sowohl formal als auch in der Nachfolge Scotts. Denn der „Spinoza“ ist kein explizit historischer Roman. Er ist vielmehr ein Hybrid aus einem historischem Sittenbild, einer Philosophenbiografie, einem Bildungsroman und einer Parallel- beziehungsweise wie Hans Otto Horch bemerkte, einer „Wunsch-Autobiographie“.

Auerbach selbst hatte die Unvollkommenheit seines Debüts bereits im Vorwort der ersten Auflage benannt. Schon in der zweiten Auflage fehlte der Untertitel „Ein historischer Roman“. An ihre Stelle traten Erklärungen und Erläuterungen zu umfangreichen Änderungen sowie der neue Untertitel „Ein Denkerleben“.

Die Erfahrung mit dem „Spinoza“-Roman hatte dennoch weitreichende Konsequenzen für Auerbachs zukünftiges literarisches Schaffen. Nach dem Scheitern an der Großform des Romans versuchte Auerbach, seinem Streben nach einer jüdischen Literatur mit einem Novellenzyklus zu begegnen. Doch fand auch dieser keine nennenswerte Resonanz. Die erneute Enttäuschung führte ihn zu der Erkenntnis, dass Spinoza besser gedient sei, wenn er dessen Wort ins Deutsche übertrug, anstatt es zu umschreiben. In der Folge entstand die vollständige Übersetzung der damals zugänglichen Werke Spinozas aus dem Lateinischen ins Deutsche. Darüber hinaus erkannte Auerbach immer stärker sein Bedürfnis, das gegenwärtige Leben des Volkes zu literarisieren. So führte ihn der Weg vom Scheitern am „Spinoza“-Roman über die Kleinform der philosophischen Novellen zu seiner literarischen Höchstleistung, den „Schwarzwälder Dorfgeschichten“. Sie machten ihn schließlich berühmt und veranlassten den bedeutenden Literaturhistoriker Georg Gottfried Gervinus gar zu dem euphorischen Ausspruch – dem „Ehrenzeugniß“, welches Auerbach „die Seele im Tiefsten erlabte“ –, dass kein zweiter seit Walter Scott eine solche Weltwirkung ausgeübt habe wie er.