Nur wer die Sehnsucht kennt…

Michael Leons „Exit Goa“ erzählt von Beatnick-Eskapismus und Vergänglichkeit

Von Veit Justus RollmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Veit Justus Rollmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Protagonist in Michael Leons Roman „Exit Goa“, dessen Vita kaum kaschierte autobiografische Züge des Verfassers trägt – nennen wir ihn bei seinem am häufigsten benutzten Namen Mitchell – hat einen Job, wie ihn sich das kreative Prekariat in den hippen Quartieren der Großstädte selbst in seinen kühnsten Träumen kaum vorzustellen wagt. Er verdient mit seiner Schreibe nicht nur genug, um gut und sicher leben zu können. Er verdient sogar genug, um ein Vermögen von umgerechnet einer halben Million Dollar ansparen zu können und hat eine Position, die es ihm erlaubt, in seinem todschicken Büro eines TV Senders in München Geiselgasteig genussvoll zu masturbieren, ohne sich vor dem Ertappt-Werden fürchten zu müssen. Kommt tatsächlich mal eine der hübschen Kolleginnen rein, sieht sie entweder über den wichsenden Mitchell hinweg, oder macht aus der Solo-Sex Nummer einen schönen Handjob.

Als Mastermind und Ideengeber einer Schar von TV-Soap-Autoren in den Boom-Jahren der eingedeutschten Telenovela Ende der 1990er-Jahre hat Mitchell ungeachtet seines nicht gerade biblischen Alters ausgesorgt. Schicke Bleibe in bester Lage, todschicke Freundin, deren Charakter näher zu schildern sich Leon jedoch nicht die Mühe macht, zumal sie für die Diegese einzig als Katalysator einer Entscheidungsfindung eine Rolle spielt; ausreichend sexuelle Eskapaden, um die Langeweile zu bannen und einen großen Kreis kiffender, koksender, cooler Kumpels für Rausch und Austausch.

Doch gerade Mitchells Freak-Freunde – allen voran sein bester Kumpan Zipp – sind das Salz in der Zufriedenheits-Suppe. Zipp weckt in Mitchell die Sehnsucht nach dem ganz anderen: Dem totalen Trip und der absoluten Party mit exotischer Verbrämung. Goa! Diese drei Buchstaben, und was er nach den Storys von Hippie-Aussteiger Zipp damit assoziiert, sind es, die Mitchells Träume dazu bringen, die Flügel zu spreiten. Raves, Beaches, Bitches, Drugs! No work, no worry, no turkey (dank vollumfänglicher 24/7 Versorgung mit Rauschmitteln aller nur denkbaren Art)! Kurz: Das irdische Paradies! Für den klassischen Vers „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß was ich leide“ liefert Leon in „Exit Goa“ die zeitgemäße Übertragung: „Wir hatten keine Sorgen, außer unseren Träumen“.

Für Mitchell stehen zwei diametral entgegengesetzte Lebensentwürfe zur Auswahl. Hierbleiben und Fortpflanzen – Freundin Walli gibt sich keine große Mühe, ihren Wunsch nach Babybauch und Ehering zu verheimlichen – oder Abhauen und Joints quarzen. Es fällt vor der Folie des Romantitels nicht schwer zu erraten, wohin die Reise geht. Zwei Wege boten sich im Walde dar – da ging ich den, der weniger betreten war. Ein ärztliches Attest wegen stressbedingter Herzprobleme (Burnout 1998) sorgt zunächst für einen Ausstieg mit Rückkehroption, die jedoch nicht genutzt wird. Mitchell jettet auf den Subkontinent und bereits in Mumbai geht die Party los. Goa ist das Shangri-La für Typen wie Mitchell – vor allem mit einer halben Mille auf dem Konto und stets genügend Reiseschecks in der Tasche.

Leons Roman erzählt von einem, der auszog, den Traum zu leben und davon, dass kein Traum ewig währt (es sei denn man erfindet ihn neu; ob dies gelingt bleibt jedoch am Ende offen). Rasch gehen Jahre der Veränderung ins Land. Ebenso rasch wandert der Leser – auch aufgrund der Diktion – durch den Roman. Ein wenig nervig gestaltet sich die Lektüre an jenen Stellen, an denen Leon – getragen von der Welle authentischen Selbstgenusses desjenigen, der etwas zu erzählen hat und darüber hinaus zu schreiben vermag – seine Storys in allzu schnodderiger Manier zu Papier bringt. Einen Text, den der Verfasser (wie) im Rausch runtergepinnt hat, neigt der Rezipient ebenso gehetzt zu lesen. Das stellenweise zu hohe Tempo wird noch durch viele apostrophierte Abkürzungen gesteigert. Ungeachtet der Tatsache, dass Erzählung und Erzählweise bei „Exit Goa“ sehr gut zueinander passen, ein eher leserunfreundliches Stilmittel. Jedoch sind diese hektischen Passagen eine gute Kontrastfolie für jene besseren Stellen, an denen Michael Leon das Tempo rausnimmt. Hier, wo Entschleunigung statt findet, gewinnt die Geschichte zeitweilig deutlich an Tiefe.

Richtig gut ist Leons Erzählung dort, wo sie die Vergänglichkeit in den Blick nimmt. Nicht nur explizit, wie in der Story des von Gehirnkrebs zerfressenen „Kid“ Ulrich, der seinen angedachten Fallschirm-Suizid aufschiebt, um noch ein paar Monate vom irdischen Paradies zu kosten und dem schlussendlich Monsun und Meer zu Styx und Acheron werden. Auch in den Geschichten, die von der Unwiederholbarkeit, der Unwiederbringlichkeit, von der verpassten Chance und dem nicht genutzten Moment erzählen.

Um ein Beispiel zu geben, sei die kleine Geschichte erwähnt, in der Mitchell eine seiner üblichen Rave-Eroberungen falsch einschätzt und seinen Fehler erst erkennt, als es zu spät ist. Er nimmt nicht nur sie, deren Namen er nicht erinnert, mit in sein Domizil im Kolonialstil. Er gabelt en passant auch einen räudigen Köter auf. Dieser zugelaufene Hund – seine Namensgebung und die Zusammensetzung seines Futters – beherrschen Mitchells Denken in dieser Nacht. Vielleicht gelingt es ihm gerade aufgrund dieser permanenten mentalen Abwesenheit, seine Eroberung durchzuvögeln, bis sie zittert und miaut. Am Morgen wird sie machohaft und plump abgewiesen, da Mitchell sich nunmehr ausschließlich mit dem Bastard auf vier Beinen zu befassen gedenkt. Ihre Reaktion macht ihm jedoch schlagartig klar, dass sie mehr ist, als eine gestylte, hohle Tussi des Typs, den er sonst häufiger heimführt. Mitchell spürt ihr Geheimnis, erkennt ihre Schönheit, beginnt sie erneut und diesmal wirklich zu begehren – doch es ist zu spät. Sie wird sein Rätsel bleiben, sein Stachel, seine Wunde. Mitchell kifft den ganzen Tag, baut das World Trade Center aus Legosteinen, schläft ein paar Stunden und zelebriert seine postkoitale Depression, den Katzenjammer nach der Party, um dann doch zum Flughafen zu fahren, wo er sie wiederfindet. In Begleitung eines anderen.

Man kann Leons „Exit Goa“ ungeachtet des ganzen schnodderigen Freak-Talg und der Sex, Drugs und Rock and Roll-Thematik als eine zarte Parabel auf die Vergänglichkeit lesen. Jeder Trip endet, jeder Joint verglimmt, jedes Konto leert sich und im irdischen Paradies können die Aussteiger nicht aus der Zeit aussteigen. Am Ende steht der gealterte Held vor dem Guru, der nackt im Baum hockt, und stellt die Sinnfrage. Alles hat ein Ende, wie die Super-Acht Movies des toten, schwulen Freaks Henry, in denen Vergangenheit in vergänglichem Material verdinglicht gegenwärtig wird: Dissapear. A part of me. Auch die zahllosen Filmrollen nimmt der wütende Monsun mit sich fort. „Easy comes, easy goes“. Mitchell spürt die Vergänglichkeit am eigenen Leib. In der Nahtod-Erfahrung in Folge einer homöopathischen Metallvergiftung und in der Erfahrung des Alterns. Freaks sind keine Götter, auch wenn sie sich je nach geschlucktem oder inhaliertem Ambrosia zeitweilig wie solche fühlen mögen. Freaks altern und sterben. In seiner Erfahrung des Alterns erinnert Mitchell ein wenig an Hesses Goldmund. Irgendwann wird er gewahr, dass das Abschleppen knackiger Babes schwieriger wird. Die Mädels reden mit ihm aufgrund seiner Eloquenz und seines Humors – in jedem Fall mit ihm ins Bett wollen sie nicht mehr. Der große Sieger bleibt die Zeit, die in furiosem Finale auch den knackigsten Hippie-Hintern von den Knochen schmilzt.

Michael Leons „Exit Goa“ setzt eine gewisse Vertrautheit mit den diversen Formen des Rauschs voraus. Dankenswerterweise nervt der Roman den Leser daher nicht mit ausladenden Schilderungen von Rauscherfahrungen, die aufgrund ihrer puren Subjektivität und der daraus resultierenden Unmöglichkeit des Nachvollzugs zu langweilen vermögen. Wo der Rausch selbst zum Thema wird, dann in seinen Auswirkungen auf Kommunikation, Sexual- und Sozialverhalten. Leons Ich-Erzähler neigt nicht zu esoterisch angehauchtem Faseln von Bewusstseinserweiterung. Du bist, was du frisst und auch wenn manchmal während eines Trips sich etwas Verdrängtes auftut, sind es stets nur wir, denen wir im Rausch begegnen.

Neben unterhaltsamen Schilderungen der Erlebnisse einer narkotischen Bohème im Dauer-High zeigt der Roman dem Leser ein anderes Indien, das auch in Indien-Skeptikern Lust weckt, dieser ehemals portugiesischen Enklave und dem kleinsten unter den indischen Bundestaaten einen Besuch abzustatten. Kaum Kühe, kein Terror- und Bombenwahnsinn, keine fanatische Religiosität – statt dessen Laissez-faire vor einer atemberaubend schönen exotischen Kulisse, die man am besten mit einer Royal Enfield durchstreift, was zudem eine nahezu perfekte Abschleppmasche für Rave-Mädchen jeder Provenienz mitbringt: „Taxi need? Climb up!“.

Vielleicht muss man gar nicht zwischen Traum und dem Aufwachen wählen. Michael Leons „Exit Goa“ zeigt einen neuen Fluchtpunkt für eskapistische Fantasien, wie sie insbesondere dem maskulinen Freiheitspathos zu entspringen vermögen, und lädt auf vergnügliche Weise dazu ein, ein wenig mit offenen Augen zu träumen.

Titelbild

Michael Leon: Exit Goa. Roman.
Czernin Verlag, Wien 2011.
200 Seiten, 19,80 EUR.
ISBN-13: 9783707603804

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