Ein Kind

Kinder regen die moralische Energie und persönliche Verlustängste an. Kate Atkinson weiß mit beidem souverän zu spielen, wie „Das vergessene Kind“ zeigt

Von Walter DelabarRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Delabar

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kinder spielen im heutigen Krimi eine besondere Rolle. Sind sie Opfer, legitimieren sie jede Schandtat, die ihm Namen ihrer Gerechtigkeit begangen wird. Gehen sie verloren, lässt sich damit jede Merkwürdigkeit begründen, die Menschen einfallen. Das mag auf die persönlichen Verlustängste in der westlichen Welt zurückgehen, in denen Kinder ein so hohes Gut geworden sind. Eine alternde und schrumpfende Gesellschaft umgibt jeden Neuankömmling aus den eigenen Reihen mit besonderer Aufmerksamkeit (ganz anders als die Fremden, die neu ankommen, die zwar auch aufmerksam, aber nicht freundlich beobachtet werden).

Mithin sind die größten Grausamkeiten diejenigen, die Kindern angetan werden, und sie sind es, die die größte moralische Entrüstung auslösen und zur gründlichen Erschütterung unseres Rechtssystems berechtigen.

Das weiß Kate Atkinson offensichtlich, und in „Das vergessene Spiel“ spielt sie damit mit größter Souveränität. Dabei scheint sie Anleihen bei ihrem Kollegen David Peace genommen zu haben, dessen Red-Riding-Quartett gleichfalls im Umfeld des Yorkshire Rippers der 1970er- bis 1980er-Jahre spielte. Nicht nur das Thema, auch in der Schreibweise hat sie sich anscheinend von ihm anregen lassen, so leichtherzig wechselt sie zwischen den Perspektiven und Tempi. Konventionelle Passagen wechseln mit rasanten, erzählerisch avancierten Strecken ab, das Ganze ist also geschrieben, wie ein gutes Team Fußball spielt, mit zahlreichen Tempowechseln und immer eigentlich auf das Thema aus.

In den 1970er-Jahren ist eine junge Polizistin, Tracy, Zeugin, als ein Junge aufgefunden wird, der seit drei Wochen in der Wohnung mit der erwürgten Leiche der Mutter ausgehalten hat. Der Junge überlebt, aber er verschwindet. Über 30 Jahre später kauft diese mittlerweile nicht mehr junge Frau einer Prostituierten ein Kind ab und ist seitdem auf der Flucht. Zur selben Zeit wird der ehemalige Polizist Jackson Brodie von einer Klientin gebeten, nach ihren leiblichen Eltern zu suchen. Sie wurde vor über 30 Jahren adoptiert, aber alle Hinweise auf ihre leiblichen Eltern entpuppen sich als Lügen. Die Hinweise verlaufen sich. Zwischenzeitlich scheint es, als ob Brodies Suche erfolglos bleiben würde. Dass dem nicht so ist und dass diese beiden Fälle aufeinander zulaufen, ist leicht anzunehmen, auch wenn ein verschwundener Junge und ein adoptiertes Mädchen nicht recht zusammenpassen wollen.

Aus der harmlosen Suche – was soll schon daran sein, ein paar Eltern zu finden – wird allerdings nach und nach ein hochkompliziertes Spiel, in das unter anderem Polizisten und Kriminalbeamte, die Adoptiveltern der Auftraggeberin Brodies und eine Sozialarbeiterin verwickelt werden. Irgendetwas von dem, was 1975 geschehen ist, war falsch. Und irgendetwas soll auch noch nach 35 Jahren verheimlicht werden, auch wenn die Akteure zum größeren Teil bereits aus dem aktiven Leben ausgeschieden sind. So erklärt sich, warum beispielsweise die Sozialarbeiterin für Jackson keine Zeit hat, es erklärt sich auch warum Jackson es auf einmal mit zwei großen Schlägern zu tun bekommt, die ihn zeitweise gefesselt in einem Müllcontainer ablegen.

Die Geschichte, die Atkinson erzählt, wird durch weitere Faktoren immer komplizierter: Was hat die demente Schauspielerin Tilly, die auf wenig dezente Weise aus einer erfolgreichen Fernsehserie getilgt wird, mit diesen beiden Kinder-Geschichten zu tun? Die Frau wird immer desorientierter und weiß immer weniger, was um sie geschieht. Was sucht außerdem der „falsche“ Jackson – ein weiterer Mann, der einen grauen Avensis fährt und mit Nachnamen Jackson heißt – in diesem Umfeld? Er verfolgt Tracy und das kleine Mädchen, was zu einer Reihe von hektischen Aktivitäten führt. Aber ist er ein Verfolger oder ist auch er nur ein privater Ermittler?

Die Antworten auf solche Fragen sind am Ende vielleicht nicht einmal besonders überraschend, aber sie sind gut erzählt. Und daran ist festzuhalten, auch wenn der Text seine Längen zu haben scheint. Die Vorgeschichte Brodies und seine Vorlieben kommen branchenüblich dazu – aber sie erklären schließlich einiges. Selbst die scheinheilige und öde wirkende Nacherzählung der kleinen Erlebnisses Tracys mit ihrem Findelkind, die den Anfang dieser Erzähllinie bestimmen, hat Funktion. Die beiden werden jedenfalls noch genug Hetze bekommen, bis sie einigermaßen heil aus dem Sichtfeld der Erzählung verschwinden können. Und wir gönnen es ihnen, sollen wenigstens diese beiden glücklich sein, so lange sie können.

Titelbild

Kate Atkinson: Das vergessene Kind. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Anette Grube.
Droemersche Verlagsanstalt, München 2011.
455 Seiten, 19,99 EUR.
ISBN-13: 9783426199107

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