Ein Shakespeare für Jungs

Einführendes zum 100. Todestag von Karl May

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Er ist der Schöpfer von Winnetou, Old Shatterhand, Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar: Karl May. Noch 100 Jahre nach seinem Tod ist er der meistgelesene deutsche Schriftsteller. Seine Werke erreichten allein in Deutschland eine Gesamtauflage von inzwischen über 100 Millionen Exemplaren und wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Ein Ende dieser Superlative ist nicht in Sicht.

Wie kaum ein anderer Schriftsteller hat Karl May die Leser in seinen Bann gezogen. Er war der erste Superstar unter den Autoren. Bei einem München-Aufenthalt im Juli 1897 nahm die Verehrung solche Formen an, dass die Feuerwehr die begeisterten May-Fans auseinanderspritzen musste.

Dabei war diese beispiellose Karriere dem gebürtigen Sachsen nicht in die Wiege gelegt. Am 25. Februar 1842 wurde Karl May als fünftes von 14 Kindern in einer Weberfamilie im erzgebirgischen Hohenstein-Ernstthal geboren. Seine Kindheit ist freudlos und von bitterer Armut bestimmt. Von seinen 13 Geschwistern sterben neun in früher Kindheit. Schließlich will er Volksschullehrer werden, doch es reicht nur zum Hilfslehrer in Glauchau. Schon frühzeitig kommt er mit dem Gesetz in Konflikt: Kleinere Diebstähle, Betrügereien und Hochstapelei bringen ihn 1865 für vier Jahre ins Zuchthaus Zwickau.

Doch auch hinter Gittern kommt seine blühende Fantasie nicht zum Stillstand. Er verschlingt alles was die Gefängnisbibliothek hergibt. Dort kommt er vermutlich mit den Abenteuerromanen der damaligen Zeit (unter anderem mit den „Lederstrumpf“-Erzählungen von James Fenimore Cooper (1789-1851) erstmals in Berührung. Mit diesem Lesestoff träumt er sich aus seiner kargen Kerkerzelle in ferne Welten.

Wegen guter Führung wird er vorzeitig entlassen, aber der Aufbau einer bürgerlichen Existenz scheitert erneut und so muss er bereits nach zwei Jahren nochmals für vier Jahre hinter Gitter im Zuchthaus Waldheim. Hier reift in ihm der Entschluss, fortan sein Geld mit der Schriftstellerei zu verdienen. Doch das ist noch ein langer Weg. Zunächst kehrt er zu seinen Eltern nach Ernstthal zurück und erhält den Posten eines Zeitungsredakteurs. Es entstehen erste Geschichten und abenteuerliche Reiseberichte – keine große Literatur, aber das Massenpublikum ist gierig nach exotischer Literatur.

1880 beginnt May mit dem Orientzyklus, dessen Geschichten in der katholischen Zeitschrift „Deutscher Hausschatz in Wort und Bild“ erscheinen. Mit größeren Unterbrechungen setzt er diese Arbeiten bis 1888 fort. Durch diese abenteuerlichen Reiseerzählungen erlangt May eine beachtliche Popularität. Selbst der berühmte Schriftstellerkollege Peter Rosegger bekennt: „Seiner ganzen Schreibweise nach halte ich ihn für einen vielerfahrenen Mann, der lange Zeit im Orient gelebt haben muss.“

In den folgenden Jahren erschafft der geniale Geschichtenerzähler Figuren wie Old Shatterhand und dessen Blutsbruder Winnetou oder Kara Ben Nemsi und seinen Diener Hadschi Halef Omar. May ist ein äußerst fleißiger Schreiber, der täglich mindestens zehn Manuskriptseiten verfasst. So entstehen in wenigen Jahren seine bekanntesten Werke: „Der Schatz im Silbersee“ (1890/91) oder „Der Ölprinz“ (1893/94).

Der Erfolg steigt ihm allerdings zu Kopf, bald kann er nicht mehr zwischen Realität und Fiktion unterscheiden und versteigt sich mehr und mehr in die „Old-Shatterhand-Legende“. Den Zuhörern auf seinen Vortragstourneen erzählt er: „Ich selbst bin Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi und habe all jene Abenteuer und Heldentaten, die in meinen Büchern geschrieben stehen, selbst erlebt.“ Auf Postkarten präsentiert er sich als Weltenbummler und Abenteurer, auf seinen Visitenkarten prangt die Aufschrift „Dr. Karl May, genannt Old Shatterhand / Radebeul Dresden / Villa Shatterhand“. Von einem Büchsenmacher lässt er sich die legendären Gewehre seiner Romanhelden anfertigen. Seine Fans glauben ihm jedes Wort und jedes seiner Abenteuer – dabei ist May nie einem Indianer begegnet.

Erst in den Jahren 1899/1900, nachdem bereits mehr als 30 seiner Werke veröffentlicht wurden, bereist Karl May tatsächlich den Orient und 1908 – inzwischen 66 Jahre alt – reist er ein einziges Mal in die USA. Besonders auf der Orientreise wird er mit der schockierenden Wirklichkeit in der arabischen Welt konfrontiert. May will jetzt keine Abenteuergeschichten mehr schreiben und findet in seinen letzten Jahren zu einer religiös-symbolistischen Erzählweise.

Inzwischen ist in Deutschland auch sein mühsam errichtetes Kartenhaus um Old Shatterhand und Kara Ben Nemsi zusammengebrochen und er sieht sich mit zahlreichen Verleumdungsprozessen konfrontiert. Karl May ist ein gebrochener Mann, sein Gesundheitszustand verschlechtert sich zusehends und er stirbt am 30. März 1912 in Radebeul.

Was geblieben ist, sind seine Werke. Generationen von Kindern und Jugendlichen haben seine Bücher verschlungen. Sie konnten mit ihnen (oder anhand der Verfilmungen mit Pierre Brice und Lex Barker) träumen, in die Welt des Orients oder des Wilden Westens eintauchen, durch die Wildnis reiten und dabei atemberaubende Abenteuer erleben. Der große Philosoph Ernst Bloch hat Karl May sogar einmal als „Shakespeare für Jungs“ bezeichnet. Was für ein Kompliment. Und so findet man sicher in jedem Haushalt eins oder mehrere seiner Bücher mit den legendären grünen Einbänden.